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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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Jennifer und Kevin dösten. Saskia hatte die Kopfhörer abgenommen und angefangen, ihre Mähne zu striegeln. Eine Reise. Jeden Tag. Sie gingen alle noch zur Schule. Und Erika? Blätterte im Biologiehefter. Dumm war sie jedenfalls nicht.
    Das Ortseingangsschild. Gleich waren sie da. Der Traum heute Nacht. Es war im Speisesaal des Darwin. Er war riesig. Alles aus Glas. Lichtdurchflutet. Wie die Abfertigungshalle in einem Flughafen. Aber den Lehrertisch gab es noch. Alle Plätze besetzt. Mit lauter Kollegen, die sie nicht kannte. Also ging sie zu den anderen Tischen, wo die Schüler saßen, oder die Reisenden, das wusste man nicht so genau. Und erst alssie Platz genommen hatte, sah sie, dass da auch Erika saß. Ihr gegenüber. Richtig erwachsen sah sie aus. Schien sie nicht zu bemerken. Aber unter dem Tisch presste sie die Knie gegen ihre Beine. Ganz fest. Was man alles so träumt.
    Die Klasse saß mal wieder im Dunkeln. Allgemeiner Dämmerzustand. Graue Schemen vor der blauen Fensterfront. Licht an. Die Leuchtstoffröhren klimperten. Die vorne links musste mal gewechselt werden, so lange, wie die brauchte. Grelles Laborlicht. Ende der Nachtruhe. Aufgestanden.
    »Guten Morgen.« Laut und kräftig.
    Schwaches Echo im Chor. Zusammengekniffene Augen.
    »Setzen.«
    Ein Herumschieben der Bücher und Hefte, Kramen nach den Stiften. Es dauerte eine Weile, bis alles an seinem Platz lag und alle Arme verschränkt waren, so wie sie es mit ihnen eingeübt hatte.
    »Hefte und Bücher weg.« Wie milde ihre Stimme klang. Das hatte sie gar nicht gewollt.
    Spätestens jetzt waren sie hellwach. Aufgerissene Augen. Blankes Entsetzen. Kollektive Schockstarre. Damit hatten sie nicht gerechnet. Das übliche Seufzen und Winseln und die unvermeidlichen Hundeblicke, als sie das Aufgabenblatt verteilte. Nur Ellen und Jakob machten keinen Mucks, nahmen es ohne Wenn und Aber entgegen. Erika blickte nicht einmal auf. Selbst Annika schien verunsichert, sah ihren Durchschnitt in Gefahr. Das ganze Programm. Vor einer Woche erst hatte sie die letzte Klausur zurückgegeben. Form und Funktion des Zellkerns. Das Zentrum alles Seins. Die Einbahnstraße von der Erbinformation zum Protein. Da lag der Zellkern vergraben. Sie war nicht mal schlecht ausgefallen. Vier Vieren, fünf Dreien, zwei Zweien, eine Eins. Aber jetzt kam die Kür. Sie trafen sich hier ja nicht zum Vergnügen, zum reinen Zeitvertreib. Hier wurde Leistung verlangt. Wie überall. Eine unangekündigte Kurzkontrolle war noch das Lebensnahste, was die Schule zu bieten hatte. Vorbereitung auf die Realität, auf die unbarmherzige Abfolge von überraschenden Ereignissen. Es war auch gar nicht gut, die Abiturprüfungen anzukündigen. Viel sinnvoller wäre es, sie überraschend durchzuführen. Eine große Tombola für all die Nieten. Der Gewinn: Aufgabenzettel in versiegelten Umschlägen. Ja, am allerbesten wäre es, die Kandidaten auszulosen und sie einzeln aus dem Unterricht zu holen, über das ganze Jahr verteilt. Nach langwierigen Vorbereitungen gute Noten zu schreiben war ja wirklich keine Kunst. Man musste die eingefahrenen Wechsel zwischen den Phasen der Wissensvermittlung und seiner Kontrolle durch kleine Tests stören. Sonst bekam man am Ende nur Pawlow’sche Hunde. Und im Leben klingeln nun mal keine Glöckchen.
    »Nur so zeigt sich, wer wirklich aufgepasst hat. Auf dem Weg vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis geht allerhand verloren.« Das war gar nicht nötig gewesen. Sie hatten sich schon ergeben. Brüteten verschreckt über den Zetteln und blickten immer wieder suchend auf. Zu ihr und hinaus ins schwarze Geäst der Kastanien vor dem Fenster. Aber dort standen auch keine Lösungen. Alles nur Theater. Tief im Inneren waren sie glücklich, endlich einmal gefordert zu werden. Alle Tiere wollten dominiert werden. Sie machten da keine Ausnahme. Das war doch mal was. Ein Lichtblick in ihrem ärmlichen Dasein. Ein lähmendes, aber erhabenes Gefühl und eine Tagesration Adrenalin. Puckernde Herzen in ihrer Hand. Ja, Kinder, das war Leben. Und das Leben war nun einmal streng geteilt. In innere Ursache und äußeres Erscheinungsbild. Hartes Wissen, trocken Brot. Es war ganz einfach. Je mehr man ihnen zumutete, desto mehr leisteten sie. Der Leistungswille lag nun mal in der Natur des Menschen. Und den Naturgesetzen war nicht zu entkommen. Nur der Wettbewerb hielt uns am Leben. An Überforderung war noch niemand gestorben. Ganz im Gegenteil. Wohl aber an Langeweile.
    Noch einen Gang durch die

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