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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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abgetrennt. War ja doch die gleiche Fahne. Wenigstens die brauchte sie sich nicht neu zu kaufen. Das Erbstück eines älteren Bruders konnte der Parka nicht sein. An einen Langmuth hätte sie sich erinnert. Vielleicht waren sie doch zugezogen. Aber nicht aus dem Westen. Dafür war sie viel zu still. Beim Elternabend war niemand aufgetaucht. Dass der Geburtsort nicht mehr im Klassenbuch stand. Kaum Informationen. Fiel alles unter Datenschutz. Man wusste viel zu wenig über die Kinder. Dabei verbrachte man mehr Zeit mit ihnen als mit dem eigenen Ehemann. Von den eigenen Kindern ganz zu schweigen. Was holte sie da aus ihrem Rucksack? Das Tafelwerk. Sie blätterte, suchte eine bestimmte Seite. Geburtstag hatte sie im August. In den Ferien. Löwe. Schade eigentlich. Sie könnte einen Hausbesuch machen. Das Kinderzimmer besichtigen. Eine Pinnwand. Buntstifte. Poster. Von der Kaulquappe zum Frosch. Bei Hausbesuchen wusste man immer sofort, was los war. Wie bei dieser einen Familie. Damals, als sie noch an der Polytechnischen Oberschule war. Die Mutter hatte ihr die Tür geöffnet. Nicht mehr die Jüngste. Augenringe und violetter Lidschatten. Das Baby im Arm und die Zigarette im Mund. So unterhielt sie sich mit ihr über eines der sechs Kinder, das versetzungsgefährdet war. Ab und an fiel ein wenig Asche auf den Säugling. Dann wurde einmal rübergepustet. Heute machte man Hausbesuche nur noch in Ausnahmefällen. Und Erika war nicht versetzungsgefährdet oder verhaltensauffällig. Sie hatte bestimmt auch keine blauen Flecken. Vielleicht hatte sie nicht einmal Eltern. Lebte allein im Wald. Sie hatte ja nicht mal eine Freundin. Besser so. Es endete ohnehin immer mit Verrat. Siehe Saskia und Jennifer. Einen Freund? Ausgeschlossen. Menstruation hin oder her. Bestimmt Haustiere. Aber keinen Hund oder eine Katze. Eher kleines Getier. Salamander, Schnecken. Genügsam und leicht zu beobachten. Im Garten ein Baumhaus. Die Angst davor, ein Rehkitz zu streicheln. In schillernde, ölverschmierte Pfützen starren. Den Birken die Haut abziehen. Feuersteine aneinanderschlagen, bis sie Funken sprühten. Eigentlich war Erika doch seltsam. Aber Beurteilungen gab es erst am Schuljahresende. Früher mit der Hand, heute mit dem Computer. Eine Einschätzung. Zwischen Wollen und Können. Meistens blieb es beim Bemühen. Den Erwartungshorizont nicht mal gesehen. Nicht so hinstarren. Stielaugen. Wie die empfindlichen Fühler. Schneckennachmittage. Als Kind hat sie selbst immer mit Schnecken gespielt. Ihnen ein Freiluftheim gebaut. Zweige in die Erde gesteckt. Löchrige Wände aus dünnen Hölzchen. Kleine Betten aus Sand gebaut. Und dann hat sie die Schnecken schlafengelegt. Auch wenn es noch gar nicht Abend war. Sie mit zerschnittenen Putzlappen zugedeckt. Am nächsten Tag waren die Schnecken immer verschwunden gewesen. Auf Spaziergang. Und sie hatte sie dann wieder eingesammelt. Nach Hause gebracht. Manchmal war dann eine Schnecke dabei, die ganz fremd aussah. Eine Tante auf Besuch. Dass sie ausgerechnet den Tieren ein Haus gebaut hatte, die ihr Heim mit sich herumtrugen. Sie hatte gedacht, alle bräuchten ein Haus. Ein Bett. Erika auch. Mit Waldblick. Zog sich aus. Einfach nur, um nackt zu sein. Ging im ganzen Haus spazieren. Die Eltern waren ja fort. Setzte sich auf das Sofa. Das fühlte sich seltsam an. Eulenrufe in der Nacht. Nacktschnecken. Das waren ja auch Lebewesen. Nur eben keine schönen. Zum Drauftrampeln. Vielleicht war sie ja dumm. Erika starrte immer noch auf die Formeln. Ihr was sagen. Irgendwas. Einfach so.



»Na, Sie schreiben jetzt viele Arbeiten, oder?«
    Erika blickte auf, schaute sie an. Natürlich irritiert.
    »Ja, ja.« Zögernd.
    »Haben Sie sich alles noch mal genau angeschaut?«
    Erika war erschrocken. Sie auch. Was war das denn? Was hatte sie gemacht? Bloß kein Wort mehr. Wegschauen. Raus. Aus dem Fenster. Aus dem Fenster gelehnt. Ruhig Blut. Was war denn los mit ihr? Gar nichts. Sie hatte nichts gesagt. Nichts verraten. Weiterfahren. Immer weiter. Das war alles ganz normal. Was war schon normal? Na, alles. Wie die Schnecken sich paaren. Das dauerte ewig. Die jungen kletterten auf die alten. Und die Nachkommen wieder auf jene, die einmal jung gewesen waren. Jung mit alt. Das waren alles Zwitter. Die Trennung verlief nicht zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen jung und alt. Was sollten die anderen von ihr denken? Merkwürdig, es war fast ruhig. Ruhe vor dem Sturm. Eher nach dem Sturm. Niemand dachte was.

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