Der Hase mit den Bernsteinaugen
»Jubiläum Ende des Jahres (genaues Datum unbekannt). Wird jedoch nicht gefeiert.«
Die Ephrussi-Erben erhielten gegen die Zusage, keine weiteren Ansprüche stellen zu wollen, einen Betrag im Gegenwert von damals etwa 5000 Dollar.
Diese ganze Restitutionsgeschichte erschöpft mich. Ich sehe, wie man sein Leben damit verbringen kann, etwas aufzuspüren, wie die Energie unter all den Bestimmungen, Briefen, Rechtsauffassungen versickert. Du weißt, dass auf dem Sims von irgendjemandem die Uhr aus dem Salon tickt, mit den zwei Nixen, die sich an den Sockel schmiegen. Du schlägst einen Auktionskatalog auf und siehst zwei Schiffe im Sturm, und plötzlich stehst du an der Tür zur Treppe, Nanny legt dir einen Schal um den Hals, es geht zum Spaziergang auf den Ring. Einen Atemzug lang kannst du ein Leben zusammenstückeln, einen zerborstenen Hintergrund für eine Familie in der Diaspora.
Die Familie fand nicht mehr zusammen. Elisabeth stellte in Tunbridge Wells eine Art Mittelpunkt dar, sie schrieb und erzählte Neuigkeiten, schickte Fotos von Nichten und Neffen weiter. Nach dem Krieg fand Henk in London einen guten Job, er arbeitete für eine UN-Hilfsorganisation, es ging ihnen finanziell besser. Gisela war in Mexiko. Sie hatte es weniger leicht und arbeitete als Putzfrau, um das Familienbudget aufzubessern. Rudolf war aus dem Kriegsdienst entlassen und lebte in Virginia. Und die Mode hatte Iggie aufgegeben, wie er es ausdrückte. Sich mit Kleidern zu beschäftigen sagte ihm nicht mehr zu: Der Faden von Wien über Paris nach New York war durch seine Kampferfahrung in Frankreich 1944 abgerissen.
Er arbeitete jetzt für Bunge, einen international tätigen Getreideexporteur; ohne es zu wollen, war er damit zu den Wurzeln des Patriarchen in Odessa zurückgekehrt. Sein erstes Aufgabengebiet war Leopoldville im Belgisch-Kongo, das er wegen der Hitze und der dort herrschenden Brutalität hasste. Ein ganzes Jahr verbrachte er dort.
Im Oktober 1947 besuchte Iggie zwischen zwei Aufträgen England. Man hatte ihm eine Stelle entweder wieder im Kongo oder in Japan angeboten, beides sagte ihm wenig zu. Er fuhr nach Tunbridge Wells, um Elisabeth, Henk und seine Neffen zu sehen und das erste Mal das Grab seines Vaters zu besuchen. Dann wollte er eine Entscheidung über seine Zukunft treffen.
Es war nach dem Abendessen. Die Buben hatten ihre Hausaufgaben erledigt und lagen im Bett. Elisabeth öffnete den Aktenkoffer und zeigte ihm die Netsuke.
Ein Rattengewusel. Der Fuchs mit den eingelegten Augen. Der an den Flaschenkürbis geschmiegte Affe. Der gefleckte Wolf. Sie nehmen ein paar heraus und legen sie auf den Küchentisch des Vorstadthauses.
Wir haben gar nichts gesagt, erzählte mir Iggie. Wir beide hatten sie zuletzt im Ankleidezimmer unserer Mutter gesehen, vor dreißig Jahren, auf dem gelben Teppich.
Japan wird’s werden, sagte er. Ich bringe sie zurück.
TEIL VIER
Tokio 19471991
Takenoko
Am 1. Dezember 1947 erhielt Iggie den Militärbewilligungsschein Nr. 4351 zur Einreise nach Japan G. GHQ FEC, Tokio. Sechs Tage später kam er in der besetzten Stadt an.
Auf der Fahrt vom Flughafen Haneda umrundete das Taxi die schlimmsten Schlaglöcher auf der Straße, wich den Kindern aus, den Radfahrern und den Frauen in den gemusterten Pluderhosen, die sich in Richtung Stadt schleppten. Tokio war eine bizarre Szenerie. Das Erste, das ihm auffiel, waren die verschlungenen Kalligraphien der Telefonleitungen und Stromkabel, die sich über das Rot der rostigen Blechdächer auf den Schuppen in alle Richtungen wanden, hinein in gesichtslose Öde. Dann ragte im winterlichen Licht im Südwesten der Fudschijama empor.
Drei Jahre lang hatten die Amerikaner Tokio bombardiert, doch wirklich verheerend waren die Angriffe vom 10. März 1945 gewesen. Flammenwände von den Brandbomben, »die den Himmel mit Feuer besäten«; 100000 Menschen wurden getötet, zwanzig Quadratkilometer der Stadt zerstört.
Außer einigen wenigen Gebäuden wurde alles zum Einsturz gebracht oder ging in Flammen auf. Stehen blieben der Kaiserpalast hinter seinen grauen Bruchsteinwällen und breiten Gräben, die wenigen aus Stein oder Beton errichteten Gebäude, die alte kura, der Speicher, wo die Kaufmannsfamilien ihre Kostbarkeiten aufbewahrten, und das Imperial Hotel. Es war 1923 von Frank Lloyd Wright entworfen worden, ein phantastisches, etwas vulgäres Gebilde, um einige Teiche gruppierte Betontempel, eine leicht aztekisch anmutende Version des
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