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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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eigenen Zeitungen und Zeitschriften, ebenso ein Radioprogramm, das aus den Schilderhäuschen dröhnte. Sie hatte ihre Bordelle (die RAA, Recreation and Amusement Association) und ihre genehmigten Orte, wo man Mädchen aufgabeln konnte (das Oasis an der Ginza; die Mädchen trugen, wie es ein amerikanischer Kommentator ausdrückte, »schäbige Imitationen langer Nachmittagskleider«). In den Zügen gab es für die Mitglieder der Besatzungsarmee reservierte Waggons. Ein Theater war beschlagnahmt worden und zum »Ernie Pyle« geworden, wo die Soldaten Filme oder Revuen sehen, eine Bibliothek oder eine der »etlichen großen Lounges« aufsuchen konnten. Und es gab die nur für Besatzungssoldaten bestimmten Läden, die OSS (Overseas Supply Stores) und die PX, wo amerikanische und europäische Lebensmittel, Zigaretten, Haushaltswaren und alkoholische Getränke erhältlich waren. Sie nahmen nur Dollars oder MFC an, Military Payment Certificates, Berechtigungsscheine des Militärs. Japan war ein besetztes Land, und so hatte alles seine Abkürzung: undurchsichtig für Besiegte wie für Neuankömmlinge.
    In dieser bizarren besiegten Stadt waren die Straßennamen entfernt worden, es gab nun eine A-Avenue und eine Zehnte Straße. Neben den Militärjeeps und General MacArthurs schwarzem 1941er Cadillac mit einem Sergeanten am Steuer und einer Eskorte weißer Jeeps der Militärpolizei, die auf dem Weg zu seinem Hauptquartier durch die Straßen rasten, waren qualmende japanische Lieferwagen und Lastautos mit Kohle- oder Holzfeuerung unterwegs, dazu dreirädrige Taxis, die bata-bata, die in den klaffenden Schlaglöchern stecken blieben. Am Bahnhof Ueno klebten Zettel, auf denen um Informationen über vermisste Angehörige oder Heimkehrer gebeten wurde.
    Die Armut in jenen Jahren war extrem. Sechzig Prozent der Stadt waren zerstört, das bedeutete, dass die behelfsmäßig aus den gerade zur Verfügung stehenden Materialien errichteten Häuser hoffnungslos überbelegt waren. Die amerikanische Armee hatte in den ersten achtzehn Monaten die Verteilung der Baustoffe in Händen. Das bedeutete aber auch, dass die Arbeiter sich in elenden Verkehrsmitteln mühsam stundenlang vom Land in die Stadt durchkämpfen mussten.
    Neue Kleidung war äußerst schwer zu bekommen, noch Jahre nach dem Krieg sah man ehemalige Soldaten in Uniformen, von denen sie die Rangabzeichen abgetrennt hatten, und Frauen in mompei, den Pluderhosen, die man früher bei der Feldarbeit getragen hatte.
    Es gab nicht genug Heizmaterial. Alle froren. Die Bäder verlangten Schwarzmarktpreise für die eine Stunde, bevor die Wassertemperatur gesenkt wurde. Die Büros wurden kaum beheizt, aber die Angestellten »haben es nicht eilig, das Büro zu verlassen, da sonst nicht viel zu tun ist. Die meisten Arbeitsräume sind im Winter zumindest ein wenig geheizt, und die Angestellten können sich warm halten, solange sie dort bleiben.« In einem schlimmen Winter hieß es von Eisenbahnern, die Zugpfeifen würden leiser gestellt, um Kohlen zu sparen.
    Vor allem gab es viel zu wenige Lebensmittel. Das bedeutete, sich vor dem Morgengrauen in überfüllte Züge zu zwängen, um auf dem Land um Reis zu feilschen. Gerüchte gingen um, Bauern besäßen dreißig Zentimeter hohe Geldstapel. Oder es bedeutete, auf die Schwarzmärkte unter freiem Himmel zu gehen, die in der Nähe der Tokioter Bahnhöfe entstanden waren; dort konnte man kaufen und verkaufen und unter den gelangweilten Augen der Armee alles Mögliche eintauschen. In der »Amerikanischen Gasse« auf dem Markt beim Bahnhof Ueno wurden Güter feilgeboten, die man den Besatzungssoldaten abgehandelt oder geklaut hatte. Amerikanische Armeedecken waren besonders begehrt. »Wie die Bäume ihre Blätter abwarfen, so warfen die Japaner nach und nach ihre Kimonos ab, um sie gegen Lebensmittel einzutauschen. Sie erfanden sogar eine ironische Bezeichnung für ihre bedrängte Existenz: takenoko, nach dem Bambusspross, den man Schicht um Schicht abschält.« Angesichts dieser Härten lautete eine damals gängige Redewendung Shikata ga nai, das bedeutet so viel wie: »Da kann man nichts machen«, mit einem Unterton von: »Nicht jammern«.
    Viele dieser amerikanischen Waren, Büchsenfleisch, Kekse, Lucky Strikes, wurden von den panpan-Mädchen auf den Schwarzmarkt gebracht, jenem »armseligen Stamm von Harpyien … Mädchen, die für Essen mit den Soldaten ausgehen … Tagsüber schlendern sie in billigen schicken Fähnchen aus dem PX-Laden herum,

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