Der Hase mit den Bernsteinaugen
Leopoldstadt, kann man beobachten, wie Juden leben sollten, zu zwölft in einem Zimmer, ohne Wasser, auf der Straße ist es laut, sie tragen die richtigen Gewänder, sprechen die richtige Mundart. 1863, als Viktor als dreijähriges Kind aus Odessa nach Wien kam, lebten noch weniger als achttausend Juden in Wien. 1867 gewährte der Kaiser den Juden die Bürgerrechte; damit fielen die letzten Barrieren, sie durften nun unterrichten und Grundbesitz erwerben. Als Viktor 1890 dreißig war, gab es 118000 Juden in Wien, viele davon Neuankömmlinge, Ostjuden, die durch die Schrecken der Pogrome im vorangegangenen Jahrzehnt aus Galizien vertrieben worden waren. Juden kamen auch aus den kleinen Dörfern Böhmens, Mährens und Ungarns, wo sie in bitterem Elend vegetiert hatten. Tief in der talmudischen Tradition verwurzelt, sprachen sie Jiddisch und trugen manchmal den Kaftan. Wollte man den Wiener Massenblättern glauben, waren viele von ihnen möglicherweise in Ritualmorde verwickelt, ganz sicher aber hatten sie mit Prostitution zu tun, sie handelten mit Altkleidern und verhökerten, seltsame Körbe auf dem Rücken tragend, in der ganzen Stadt ihre Waren.
Zur Zeit von Viktors und Emmys Hochzeit, 1899, lebten 145 000 Juden in Wien. Um 1910 hatten allein Warschau und Budapest eine größere jüdische Bevölkerung, außerhalb Europas nur New York. Und es war eine Bevölkerung wie keine andere. Viele aus der zweiten Generation der neuen Zuwanderer hatten Bemerkenswertes erreicht. Wien war eine Stadt, so Jakob Wassermann um die Jahrhundertwende, in der »die ganze Öffentlichkeit von Juden beherrscht wurde. Die Banken, die Presse, das Theater, die Literatur, gesellschaftliche Veranstaltungen, alles war in den Händen der Juden … Dennoch war meine Verwunderung groß über die Mengen von jüdischen Ärzten, Advokaten, Klubmitgliedern, Snobs, Dandys, Proletariern, Schauspielern, Zeitungsleuten und Dichtern.« Tatsächlich waren 71 Prozent der Finanzleute Juden, 65 Prozent der Anwälte, 59 Prozent der Ärzte und die Hälfte der Wiener Journalisten. Die Neue Freie Presse »gehörte Juden, sie wurde von ihnen herausgegeben und geschrieben«, meinte Henry Wickham Steed in seinem beiläufig antisemitischen Buch über das Habsburgerreich.
Und diese Juden hatten perfekte Fassaden - sie verschwanden einfach. Es war eine Potemkinsche Stadt, und sie waren Potemkinsche Einwohner. So wie der russische General aus Holz und Mörtel eine Stadt hingestellt habe, um Katharina die Große bei ihrem Besuch zu beeindrucken, so sei die Ringstraße, schrieb der junge Hitzkopf Adolf Loos, nichts als ein gigantisches Scheingebilde. Es sei potemkinsch. Die Fassaden hätten keine Beziehung zu den Gebäuden. Der Stein sei bloß Stuck, Machwerk für Parvenüs. Die Wiener sollten aufhören, in diesen Bühnenbildern zu leben, »wo sie hofften, niemand würde den Schwindel entdecken«. Und der Satiriker Karl Kraus stimmte ihm zu und sprach von der »Verschweinung des praktischen Lebens durch das Ornament«. Dazu kam noch, dass durch diese »katastrophale Verwirrung« die Sprache selbst infiziert werde: »Die Phrase ist das Ornament des Geistes.« Diese üppig verzierten Gebäude, ihre ornamentale Gestaltung, das ornamentale Leben, das sich um sie herum abspielte: Wien war bombastisch geworden.
Kein einfacher Ort für die Netsuke, denke ich, während ich in der Dämmerung zum Palais Ephrussi zurückschlendere; ich fühle mich ruhiger. Es ist kompliziert, weil ich nicht sicher bin, was all die Ornamente bedeuten. Meine Netsuke sind aus verschiedenen Materialien, Buchsbaumholz oder Elfenbein. Sie sind durch und durch hart. Sie sind nicht potemkinsch, sie sind nicht aus Gips und Pappe. Es sind witzige kleine Sachen, und ich kann mir nicht vorstellen, wie sie in dieser selbstgefällig-großmäuligen Stadt überleben sollen.
Andererseits könnte ihnen auch keiner nachsagen, sie wären etwas Praktisches. Sicher kann man sie für ornamental halten, sogar für eine Art Verzauberung. Wie passend mag Charles’ Hochzeitsgeschenk, einmal nach Wien gelangt, wohl gewesen sein?
Zionstraße
Als die Netsuke im Palais eintrafen, war das Gebäude beinahe dreißig Jahre alt; es war ungefähr zur selben Zeit erbaut worden wie das Hotel Ephrussi in der Rue de Monceau. Es ist ein Schaustück, eine phantastische Darbietung durch den Auftraggeber, Viktors Vater, meinen Ururgroßvater Ignaz.
In dieser Geschichte, die sich über drei Generationen erstreckt, treten
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