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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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unendlich gelangweilt, das Bilderalbum rutscht ihr beinahe aus der Hand. Sie ist fünfzehn, nimmt Tanzstunden und stattet mit der frostigen Mama in der Kutsche Besuche ab. Mein Urgroßvater ist der kleine Viktor. Er wird bei seinem russischen Familienkosenamen Tascha gerufen, trägt einen Samtanzug und hält einen Samthut und ein Spazierstöckchen. Er hat schwarz glänzendes welliges Haar und sieht aus, als hätte man ihm eine Belohnung dafür versprochen, diesen langen Nachmittag fern von seinem Schulzimmer unter all den schweren Draperien zu verbringen.
    Aus Viktors Schulzimmer blickt man auf die Baustelle, wo eben die Universität mit ihrer rationalen Säulenreihe errichtet wird, die den Wienern vermitteln soll, Wissen sei etwas Säkulares und Modernes. Jahrelang waren aus allen Fenstern im neuen Familienhaus an der Ringstraße nur Staub und Abriss zu sehen. Und während Charles sich mit Madame Lemaire in den Pariser Salons über Bizet unterhält, sitzt Viktor mit seinem deutschen Hauslehrer, dem Preußen Wessel, im Schulzimmer des Palais Ephrussi. Herr Wessel lässt Viktor Passagen aus Edward Gibbons »Decline and Fall of the Roman Empire« aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen, zeigt ihm anhand der Werke des großen deutschen Historikers Leopold von Ranke, wie Geschichte funktioniert, »wie es eigentlich gewesen«. Geschichte geht in diesem Augenblick vor sich, erfährt Viktor; Geschichte streicht wie der Wind durch ein Weizenfeld, immer weiter, von Herodot, Cicero, Plinius und Tacitus über ein Reich nach dem anderen bis zu Österreich-Ungarn und Bismarck und dem neuen Deutschland.
    Um Geschichte zu verstehen, doziert Herr Wessel, müsse man auch Ovid und Vergil lesen. Man müsse erkennen, wie Helden mit Exil, mit Niederlage und Rückkehr umgehen. So muss Viktor also nach den Geschichtsstunden Teile der »Aeneis« auswendig lernen. Und danach, wahrscheinlich zur Erholung, lehrt Herr Wessel Viktor einiges über Goethe, Schiller und Humboldt. Viktor lernt, Deutschland zu lieben heiße die Aufklärung zu lieben. Deutsch bedeute Befreiung von Rückständigkeit, es bedeute Bildung, Kultur, Wissen, hin zur Erfahrung. Bildung, so wird impliziert, ist die Reise vom Russisch- zum Deutschsprechen, von Odessa an die Ringstraße, vom Getreidehandel zur Schiller-Lektüre. Viktor beginnt seine eigenen Bücher zu kaufen.
    In der Familie gilt er als der kluge Kopf, also muss seine Erziehung darauf abgestimmt werden. Wie Charles ist Viktor ein überzähliger Sohn und muss nicht Bankier werden. Dafür wird Stefan ausgebildet, so wie Leons ältester Sohn Jules. Auf einem einige Jahre später aufgenommenen Foto ist Viktor zweiundzwanzig und sieht mit dem adrett gestutzten Bart, bereits etwas dicklich, mit weißem Stehkragen und schwarzem Jackett wie ein braver jüdischer Gelehrter aus. Er hat natürlich die Ephrussi-Nase, doch am auffälligsten ist der Kneifer, das Kennzeichen eines jungen Mannes, der Historiker werden möchte. Tatsächlich kann Viktor in seinem Stammcafe schon des Langen und Breiten über den geschichtlichen Moment dozieren, wie es sein Hauslehrer ihm beigebracht hat, und wie man die Kräfte der Reaktion im Kontext des Fortschritts sehen müsse. Und so weiter und so fort.
    Jeder junge Mann hatte sein Stammcafe, und alle wiesen sie subtile Unterschiede auf. Viktor frequentierte das Griensteidl im Palais Herberstein nahe der Hofburg, einen Treffpunkt junger Schriftsteller, des Jung-Wien des Dichters Hugo von Hofmannsthal und des Dramatikers Arthur Schnitzler. Der Dichter Peter Altenberg ließ sich die Post an seinen Tisch bringen. Es gab Berge von Zeitungen und das vollständige Meyers Konversationslexikon; damit konnte man Streitigkeiten anfachen oder schlichten oder Zeitungsartikel mit Fakten unterfüttern. Ganze Tage konnte man hier verbringen, unter dem Deckengewölbe bei einer einzigen Schale Kaffee sitzen, schreiben oder auch nicht, die Morgenzeitungen lesen und auf die Nachmittagsausgaben warten. Theodor Herzl, der Pariser Korrespondent der Neuen Freien Presse mit Wohnung in der Rue de Monceau, pflegte hier zu schreiben und über seine absurde Idee eines Judenstaats zu diskutieren. Angeblich beteiligten sich sogar die Ober an den Gesprächen an den großen runden Tischen. Es war, wie Karl Kraus es ausdrückte, eine »Versuchsstation für den Weltuntergang«.
    In einem Kaffeehaus konnte man sich eine Attitüde melancholischer Absonderung zulegen. Viele von Viktors Freunden pflegten diese Attitüde,

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