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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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natürlich.
    Karl Lueger, Gründer der Christlichsozialen Partei, mit seiner Liebenswürdigkeit und seiner Wiener Mundart, und seine Anhänger mit den weißen Nelken im Knopfloch schienen weit gefährlicher. Sein Antisemitismus wirkte raffinierter, weniger offen hetzerisch. Lueger stellte sich als einen Antisemiten mehr aus Notwendigkeit denn aus Überzeugung hin: »Wölfe, Panther, Leoparden und Tiger sind Menschen gegenüber diesen Raubtieren in Menschengestalt … Wir wollen nicht, dass das alte christliche österreichische Kaiserreich durch ein neues Judenreich verdrängt wird. Es ist nicht Hass gegen den Einzelnen, gegen den armen, kleinen Juden. Nein, meine Herren, wir hassen nur das unterdrückerische Großkapital, das in den Händen der Juden ist.« Die »Bankjuden« - die Rothschilds und Ephrussi - hieß es in die Schranken weisen.
    Lueger wurde äußerst populär und schließlich 1897 zum Bürgermeister ernannt; er bemerkte dabei mit einiger Befriedigung, »der Antisemitismus ist ein sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen«. Lueger arrangierte sich später mit den Juden, die er bei seinem Aufstieg zur Macht angegriffen hatte, und bemerkte süffisant: »Wer ein Jud ist, bestimme ich.« Doch die Juden hegten nach wie vor Befürchtungen: »Passt es zum guten Namen und den Interessen, dass Wien die einzige Großstadt der Welt ist, die von einem antisemitischen Hetzer verwaltet wird?« Obwohl keine antijüdischen Gesetze erlassen wurden, hatten die zwanzig Jahre von Luegers Rhetorik ihren Preis: Das Vorurteil war nun legitimiert.
    1899, in dem Jahr, in dem die Netsuke nach Wien kamen, konnte ein Abgeordneter im Reichsrat in einer Rede Schussprämien für die Tötung von Juden fordern. In Wien reagierten die assimilierten Juden auf die ungeheuerlichsten Aussprüche mit der Meinung, es sei wahrscheinlich besser, sich nicht zu sehr darüber aufzuregen.
    Es sieht so aus, als würde ich einen weiteren Winter damit verbringen, über Antisemitismus nachzulesen.
    Es war der Kaiser, der sich als Bollwerk gegen diese Agitation erwies. »Ich dulde keine Judenhetze in Meinem Reiche«, sagte er. »Ich bin von der Treue und Loyalität der Israeliten vollkommen überzeugt und die Israeliten können immerdar auf Meinen Schutz rechnen.« Adolf Jellinek, der berühmteste jüdische Prediger von damals, erklärte, die Juden seien »durch und durch dynastisch, kaiserlich, österreichisch, der österreichische Doppeladler ist für sie ein Symbol der Erlösung, die österreichischen Farben schmücken die Fahne ihrer Freiheit«.
    Die jungen Juden in ihren Kaffeehäusern sahen das etwas anders. Sie lebten in Österreich, Teil eines dynastischen Kaiserreichs, mit einer erstickenden Bürokratie, wo jede Entscheidung auf die lange Bank geschoben wurde, wo jeder nach der Punze k.u.k., kaiserlich und königlich, trachtete. Man konnte nicht durch Wien gehen, ohne dem Doppeladler oder den Bildern von Kaiser Franz Joseph mit seinem Schnurr- und Backenbart, seiner ordenbehängten Brust und seinem großväterlichen Blick zu begegnen, der einem aus dem Fenster des Ladens, wo man seine Zigarren kaufte, folgte oder über dem Tisch des Zahlkellners im Restaurant. War man jung, reich und Jude, konnte man keinen Schritt tun, ohne von einem Mitglied der eigenen weitläufigen Sippe observiert zu werden. Was immer man tat, konnte in einem Witzblatt zum Thema werden. Wien war voller Klatschbasen, Karikaturisten - und Cousins.
    An den marmornen Kaffeehaustischen diskutierten diese ernsthaften jungen Männer viel über das Wesen ihrer Zeit. Hofmannsthal, Sohn eines jüdischen Financiers, meinte, es sei »Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit«. Sie »kann nur auf Gleitendem ausruhen und ist sich bewußt, daß es Gleitendes ist, wo andere Generationen an das Feste glaubten«. Das Wesen der Zeit war der Wandel, etwas, das man im Teilstück, im Fragment, im Melancholisch-Lyrischen, nicht in den grandiosen, schweren, opernhaften Akkorden der Gründerzeit und der Ringstraße ansprechen konnte. »Sicherheit«, sagte Schnitzler, gutsituierter Sohn eines jüdischen Professors der Hals-Nasen-Ohrenkunde, »ist nirgendwo.«
    Melancholie passt zum endlosen Herbst von Schuberts »Abschied«. Liebestod war eine Antwort. Selbstmord war eine schreckliche Normalität unter Viktors Bekannten. Schnitzlers Tochter, Hofmannsthals Sohn, drei von Ludwig Wittgensteins Brüdern, Gustav Mahlers Bruder, sie alle nahmen sich das Leben. Der Tod war eine Möglichkeit,

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