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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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sich vom Alltäglichen abzugrenzen, vom Snobismus, den Intrigen, dem Klatsch, ins »Gleitende« zu entschweben. In »Der Weg ins Freie« erwägt Schnitzler Gründe, sich umzubringen: »wegen Grace, wegen Schulden, aus Lebensüberdruß, oder ausschließlich aus Affektation«. Als am 30. Januar 1889 Kronprinz Rudolf Selbstmord beging, nachdem er seine junge Geliebte Mary Vetsera ermordet hatte, erhielt der Suizid seine imperiale Imprimatur.
    Selbstverständlich würde keines der vernünftigen Ephrussi-Kinder so weit gehen. Melancholie hatte ihren Platz: das Kaffeehaus. Sie nachhause mitzubringen, das ging nicht.
    Man brachte dafür anderes mit.
    Am 25. Juni 1889 trat Viktors Schwester, die attraktiv-hässliche Anna mit dem langen Gesicht, zum Katholizismus über, um Paul Herz von Hertenried heiraten zu können. Aus einer langen Liste guter Partien hatte sie einen Bankier und Baron ausgewählt, der aus der richtigen Art Familie kam, auch wenn er Christ war. In der Familie von Hertenried - so meine Großmutter anerkennend - wurde stets Französisch gesprochen. Konversionen waren ziemlich alltäglich. Ich verbringe einen Tag damit, im Archiv der Kultusgemeinde nahe der Synagoge in der Seitenstettengasse die Aufzeichnungen des Rabbinats durchzusehen, in denen die Namen aller in Wien geborenen, verheirateten und bestatteten Juden verzeichnet sind. Ich bin auf der Suche nach Anna, als eine Archivarin sich umwendet. »Ich erinnere mich an diese Hochzeit«, sagt sie. »1889. Sie hat eine sehr kräftige, selbstbewusste Unterschrift. Die hat sich fast durch das Papier durchgedrückt.«
    Das glaube ich gern. Anna scheint Ärger gemacht zu haben, wo sie auch war. Auf dem Stammbaum, den meine Großmutter in den 197oern für meinen Vater anfertigte, sind Bleistiftanmerkungen eingetragen. Anna hat zwei Kinder, schreibt sie, eine schöne Tochter, verheiratet, die mit ihrem Liebhaber in den Osten flieht, und einen Sohn, »unverheiratet, Nichtstuer«. Und weiter: »Anna, Hexe«.
    Elf Tage nach der Hochzeit Annas mit ihrem Bankier brennt Stefan, der mutmaßliche Erbe - für ein Leben in der Bank dressiert, mit phantastisch hochgezwirbeltem Schnurrbart -, mit Estiha durch, der russischen Mätresse seines Vaters. Estiha sprach nur Russisch, so steht es auf dem Stammbaum mit den Anmerkungen, und »gebrochen Deutsch«.
    Stefan wurde auf der Stelle enterbt. Er erhielt keinen Unterhalt, durfte in keinem Familienbesitz wohnen, mit keinem Familienmitglied in Verbindung treten. Ein echt alttestamentarischer Bann, wenn auch mit dem ausgesprochen wienerischen Hautgout, dass er die Geliebte seines Vaters heiratete. Eine Sünde übertraf die andere: Abtrünnigkeit die Verletzung der Kindespflicht. Dazu die linguistische Inkompetenz der Mätresse. Ich weiß nicht genau, wie ich das dechiffrieren soll: Wirft das ein schlechtes Licht auf den Vater, den Sohn oder auf beide?
    Von allen Ressourcen abgeschnitten, ging das Paar nach Odessa, wo die beiden noch Freunde und einen Namen hatten. Dann weiter nach Nizza. Dann, während das Geld allmählich zu Ende ging, in zunehmend weniger vornehme Badeorte an der Cote d’Azur. 1893 berichtet eine Zeitung aus Odessa, Baron Stefan von Ephrussi sei in die evangelisch-lutherische Kirche aufgenommen worden. 1897 arbeitet er als Kassier in einer russischen Außenhandelsbank. 1898 kommt ein Brief aus einem schäbigen Pariser Hotel im zehnten Arrondissement.
    Sie haben keine Kinder, keine Erben, die Ignaz’ Pläne komplizieren könnten. Flüchtig denke ich, ob Stefan wohl noch seinen prächtigen Schnurrbart hatte, als er mit Estiha durch diese immer dürftigeren Hotels zog und auf ein Telegramm aus Wien wartete.
    Und Viktors Welt war zu Ende, wie ein zugeknalltes Buch.
    Vormittage im Kaffeehaus oder nicht, Viktor war nun plötzlich für ein riesiges und komplexes internationales Unternehmen verantwortlich. Er sollte sich mit Aktien und Warenladungen nach St. Petersburg, Odessa, Paris, Frankfurt beschäftigen. Wertvolle Zeit war auf den anderen Jungen verschwendet worden. Viktor musste rasch lernen, was man von ihm erwartete. Und das war bloß der Anfang. Er musste auch heiraten und Kinder in die Welt setzen: Vor allem musste er einen Sohn zeugen. Die Träume von einem Grundlagenwerk zur Geschichte von Byzanz waren ausgeträumt. Nun war er der Erbe.
    Ich denke, es muss um diese Zeit gewesen sein, dass Viktor seinen nervösen Tic entwickelte: Er nahm den Kneifer ab und strich sich mit der Hand über das Gesicht, von der

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