Der Hase mit den Bernsteinaugen
Kavallerieoffizier, ein anderer einen ungarischen Wüstling, einen Fürsten. War es die Ephrussi, die in zwei verschiedenen Wohnungen gleich aussehende Kleider aufbewahrte, damit sie den Tag entweder bei ihrem Ehemann oder ihrem Liebhaber beginnen konnte? Der Klatsch ist immer noch so lebendig, die Wiener scheinen überhaupt kein Geheimnis zu kennen. Ich fühle mich auf schmerzhafte Weise englisch.
Ich denke an Viktor, Sohn eines sexuell unersättlichen Mannes, Bruder eines weiteren, ich sehe, wie er an seinem Bibliothekstisch mit einem silbernen Papiermesser ein braunes Paket mit Büchern von seinem Händler in Berlin aufschlitzt. Ich sehe, wie er in seine Westentasche greift, um die dünnen Streichhölzer herauszuholen, mit denen er seine Zigarren anzündet. Ich sehe das Aufstauen und Abebben der Energien im Haus, wie Wasser, das in einen Teich hinein- und wieder abrinnt. Was ich nicht sehe, das ist Viktor in Emmys Ankleidezimmer, wie er in die Vitrine blickt, sie aufsperrt und ein Netsuke herausnimmt. Ich weiß nicht einmal, ob er der Mann ist, neben Emmy zu sitzen und sich mit ihr zu unterhalten, während sie sich ankleidet und Anna sich um sie zu schaffen macht. Ich weiß nicht, worüber sie sich eigentlich unterhalten. Cicero? Hüte?
Ich sehe, wie er sich mit der Hand übers Gesicht streicht, um sich neu einzustellen, bevor er am Morgen in sein Büro geht. Viktor tritt hinaus auf den Ring, wendet sich nach rechts, geht zuerst in die Schottengasse, dann nach links und schon ist er am Ziel. Seit neuestem hat er seinen Kammerdiener Franz dabei. Franz sitzt an einem Schreibtisch im Vorzimmer, so dass Viktor drinnen ungestört lesen kann. Gott sei Dank gibt es die Buchhalter, die all die Zahlenreihen ordentlich in Tabellenform bringen, während sich Viktor in seiner schönen schrägen Handschrift Notizen zu historischen Themen macht. Ein jüdischer Mann in mittleren Jahren, der in seine schöne junge Frau verliebt ist.
Über Viktor gibt es bei Adler keinen Klatsch zu erzählen.
Ich denke an die achtzehnjährige Emmy, mit ihrer Vitrine voller Elfenbeinsachen, neu installiert in dem großen Haus mit dem Glasdach an der Ecke des Rings, und erinnere mich an Walter Benjamins Beschreibung eines Interieurs des 19. Jahrhunderts: »Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, daß man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt.«
Es war einmal
Die Kinder im Palais Ephrussi haben Kinderschwestern und Nannys. Die Kinderschwestern sind Wienerinnen und nett, die Nannys sind Engländerinnen. Weil sie Engländerinnen sind, gibt es englisches Frühstück, immer mit Porridge und Toast. Zu Mittag ein großes Mittagessen mit Nachtisch, dann den Nachmittagstee mit Brot, Butter, Marmelade und kleinen Kuchen, danach das Abendessen mit Milch und Kompott, damit sie regelmäßig »können«.
An besonderen Tagen sollen die Kinder dabei sein, wenn Emmy Besucher empfängt. Elisabeth und Gisela tragen gestärkte Musselinkleidchen mit Schärpen, der arme Iggie, etwas dicklich, muss einen Anzug á la Kleiner Lord Fauntieroy aus schwarzem Samt mit einem Kragen aus irischer Spitze anziehen. Gisela mit den großen blauen Augen ist der besondere Liebling der Damen, die zu Besuch kommen, Charles’ kleine Renoir-Zigeunerin beim Besuch im Chalet Ephrussi, so hübsch, dass die taktlose Emmy ihr Porträt in roter Kreide anfertigen lässt; Baron Albert Rothschild, ein Amateurfotograf, bittet, sie in sein Atelier zu schicken, damit er sie ablichten kann. Die Kinder werden mit den Nannys einmal am Tag mit der Kutsche in den Prater zum Spazierengehen gefahren, dort staubt es weniger als an der Ringstraße. Auch ein Lakai ist dabei, in einem beigen Überzieher und Zylinder mit der Ephrussi-Kokarde geht er hinter ihnen.
Zu zwei bestimmten Zeiten sehen die Kinder ihre Mutter: wenn sie sich zum Abendessen umkleidet und am Sonntagvormittag. Um halb elf brechen die Nanny und die Gouvernante zum Gottesdienst in der anglikanischen Kirche auf, und Mama sucht das Kinderzimmer auf. In ihrem kurzen Erinnerungstext beschreibt es Elisabeth so: »Diese zwei himmlischen Sonntagvormittagsstunden … Sie hatte sich an diesem Morgen mit der Toilette beeilt und war sehr einfach gekleidet, im schwarzen Rock, bodenlang natürlich, und einer grünen Hemdbluse mit steifem weißem Kragen und weißen
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