Der Hase mit den Bernsteinaugen
Manschetten, die Haare elegant hochgetürmt. Sie war wunderhübsch, und sie roch göttlich …«
Gemeinsam holten sie dann die schweren Bilderbücher mit den kastanienbraunen Umschlägen herbei: Edmund Dulacs »Sommernachtstraum«, »Die schlafende Schöne« und, das Beste von allen, »Die Schöne und das Tier« mit den gruseligen Bildern. Alle Jahre zu Weihnachten gab es ein neues Märchenbuch von Andrew Lang, das die englische Großmutter der Kinder aus London bestellte: grau, violett, feuerrot, braun, orange, oliv und rosa. Ein Buch konnte für ein Jahr reichen. Jedes Kind suchte sich seine Lieblingsgeschichte aus: »Der weiße Wolf«, »Die Königin der Blumeninseln«, »Der Knabe, der sich endlich fürchtete«, »Was beim Blumenpflücken geschah«, »Der hinkende Fuchs«, »Der Straßenmusikant«.
Liest man sie vor, dauern die Geschichten aus den Märchenbüchern weniger als eine halbe Stunde. Jede Geschichte beginnt mit »Es war einmal«. In manchen kommt eine Hütte am Waldrand vor, wie in den Birken- und Kiefernwäldern in Kövecses. In anderen erscheint ein weißer Wolf, wie derjenige, den der Wildhüter unweit vom Haus erschossen und an einem Herbstmorgen den Kindern und ihren Cousins im Hof bei den Ställen gezeigt hat. Oder der bronzene Wolfskopf am Portal des Palais Schey, dessen Schnauze sie jedes Mal reiben, wenn sie vorübergehen.
Es gibt seltsame Begegnungen in diesen Geschichten, Begegnungen mit dem Vogelzauberer, der auf Hut und Armen eine Schar Finken sitzen hat - wie der, den man, umringt von Kindern, an der Ringstraße vor dem Eingang zum Volksgarten stehen sieht. Oder mit Hausierern. Wie der Schnorrer mit dem Korb voller Knöpfe und Bleistifte und den Ansichtskarten, die von seinem schwarzen Mantel hängen; er steht beim Tor zum Franzensring, und sie sollen höflich zu ihm sein, hat der Vater gesagt.
Viele Geschichten handeln davon, wie eine Prinzessin ihr schönes Kleid und das Diadem anlegt, um auf den Ball zu gehen, wie Mama. In vielen gibt es ein Zauberschloss mit einem Ballsaal, wie der Saal in der unteren Etage, der zu Weihnachten im Kerzenlicht erstrahlt. Und alle Geschichten hören mit »Ende« auf, mit einem Kuss von Mama, und dann gibt es eine ganze Woche lang keine Geschichten mehr. Emmy war eine wunderbare Geschichtenerzählerin, sagte Iggie.
Die zweite Gelegenheit, bei der die Kinder sie regelmäßig zu Gesicht bekommen, ist, wenn sie sich zum Ausgehen umzieht und sie ins Ankleidezimmer dürfen.
Emmy legt die Tageskleidung ab, in der sie Gäste empfangen oder Besuche abgestattet hat, und das Kleid für das Abendessen zuhause an, für die Oper oder, am schönsten, für einen Ball. Die Kleider werden auf die Chaiselongue gebreitet, und dann beginnt eine lange Debatte mit der fachkundigen Anna, welches man tragen soll. Die Augen meines Großonkels leuchteten auf, wenn er ihre Animiertheit beschrieb. Viktor an seinem Ende des Ganges hat seinen Ovid und Tacitus - und seine Leda; am anderen kann Emmy die Kleider beschreiben, die ihre Mutter Saison für Saison getragen hat: wie die Längen sich änderten, was Schwere und Fall eines Kleides für die Bewegung ausmachen, die Unterschiede zwischen einem Musselin-, Gaze- oder Tüllschal, den man abends um die Schultern trägtt. Sie kennt die Pariser Mode und was in Wien ä la mode und was wann angebracht ist. Besonders beschlagen ist sie bei Hüten: ein Samthut mit einem breiten Band für die Audienz beim Kaiser, eine Pelztoque mit Straußenfeder zu einem mit schwarzem Pelz verbrämten Etuikleid; der passende Hut für die Wohltätigkeitsveranstaltung der jüdischen Damen in einem kleinen Ballsaal ist etwas sehr Ausladendes mit einer Hortensie an der Krempe. Aus Kövecses schickt Emmy ihrer Mutter eine Ansichtskarte von sich selbst mit einem dunklen Makart-Hut: »Tascha hat heute einen Bock geschossen. Wie geht es Deiner Verkühlung? Gefallen Dir meine neuesten affektierten Bilder?«
Beim Ankleiden bürstet Anna Emmy das Haar, schnürt das Korsett, schließt unzählige Häkchen und Ösen, holt diverse Handschuhe, Schals und Hüte herbei, während Emmy den Schmuck aussucht und vor dem hohen dreiteiligen Spiegel steht.
Und jetzt dürfen die Kinder auch mit den Netsuke spielen. Der Schlüssel zum schwarzen Lackschrank wird umgedreht, die Tür geht auf.
Altstadttypen
Die Kinder im Ankleidezimmer wählen ihre Lieblingsschnitzerei und spielen auf dem blassgelben Teppich damit. Gisela mag die japanische Tänzerin, die, in einem
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