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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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auf den grünen Samtborden aufbewahrt werden, bedeutet das, dass man sie bei Emmys Nachmittagsempfängen nicht erklären muss. Viktor braucht sie gar nicht zu erwähnen. Stand die Vitrine vielleicht hier, weil man sich für sie genierte?
    Oder war die Entscheidung absichtlich getroffen worden, die Netsuke der öffentlichen Begutachtung zu entziehen, weg von all dem Makart-Pomp? Hatte man sie in einen Raum gegeben, der ganz Emmy gehörte, weil sie von ihnen fasziniert war? Sollten sie vor der Leichenhand des Ringstraßenstils bewahrt werden? Auf diesem Ephrussi-Paradeplatz voller goldstrotzender Möbel und Goldbronze gab es nicht viel, das man um sich haben wollte. Die Netsuke sind intime Objekte für einen intimen Raum. Wollte Emmy etwas, das einfach - und buchstäblich - mit ihrem Schwiegervater Ignaz nie in Berührung gekommen war? Ein kleines bisschen Pariser Glamour?
    Das war ihr Zimmer. Sie verbrachte viel Zeit darin. Sie zog sich dreimal am Tag um, manchmal öfter. Einen Hut aufzusetzen, wenn sie zum Rennen ging, die vielen Löckchen einzeln an der Unterseide der breiten Krempe festzunadeln nahm vierzig Minuten in Anspruch. Das bestickte lange Ballkleid, dazu das Husarenjäckchen mit den komplizierten Verschnürungen, brauchte ewig. Man zog sich um zu Gesellschaften, zum Einkaufen, zum Abendessen, zu Besuchen, zum Ausritt im Prater, zum Ball. Jede Stunde in diesem Ankleidezimmer war eine Anpassung von Korsett, Kleid, Handschuhen und Hut an den Tag, man legte das eine Selbst ab und schnürte sich in ein anderes ein. In manche Kleider muss sie hineingenäht werden, Anna kniet ihr zu Füßen und holt Faden, Nadel, Fingerhut aus der Schürzentasche. Emmy besitzt auch Pelze, ein Saum ist mit Nerz verbrämt, auf einem Foto trägt sie einen Polarfuchs um den Hals, auf einem anderen eine zwei Meter lange Bärenfellstola über das Kleid geworfen. Eine Stunde kann vergehen, während Anna diverse Handschuhe herbeiholt.
    Emmy kleidet sich zum Ausgehen an. Es ist Winter 1906 in einer Wiener Straße, sie unterhält sich mit einem Erzherzog. Beide lächeln, während sie ihm ein paar Primeln überreicht. Sie trägt ein Kostüm mit Nadelstreifen: ein ausgestellter Rock mit einem breiten, quergestreiften Saum, ein enganliegendes Zuavenjäckchen. Das ist ein Ausgehkostüm. Das Ankleiden für den Weg durch die Herrengasse erforderte eineinhalb Stunden: Höschen mit angeschnittenen Beinen, Unterhemd aus feinem Batist oder Crepe de Chine, ein Korsett, das die Taille zusammenschnürt, Strümpfe, Strumpfhalter, Knöpfelstiefel, Rock mit Hakenverschluss am Schlitz, dann entweder eine Bluse oder eine Chemisette - damit die Ärmel sich nicht schoppen - mit Stehkragen und Spitzenjabot, dann die hinten geschlossene Jacke, die kleine Börse - ein Ridikül - an einer Kette, Schmuck, ein Pelzhut mit einer gestreiften Taftschleife, die das Muster des Kostüms wieder aufnimmt, weiße Handschuhe, Blumen. Und kein Parfüm; sie benutzt keines.
    Die Vitrine im Ankleidezimmer steht Wache bei einem zweimal jährlich, im Frühjahr und im Herbst, stattfindenden Ritual: dem Ritual, eine neue Garderobe für die kommende Saison auszusuchen. Damen gingen nicht zum Schneider, um die neuen Modelle zu inspizieren; die Modelle wurden zu ihnen gebracht. Der Chef eines Salons fuhr nach Paris und suchte Kleider aus, die dann sorgfältig verpackt in riesigen Schachteln geliefert wurden, begleitet von einem älteren, weißhaarigen Mann, Herrn Schuster. Seine Schachteln türmten sich im Gang, er saß daneben; Anna trug eine nach der anderen in Emmys Ankleidezimmer. Wenn Emmy angezogen war, rief man Herrn Schuster hinein, damit er seine Meinung kundtat. »Natürlich äußerte er sich immer zustimmend, aber wenn er bemerkte, dass Mama eines so besonders gefiel, dass sie es noch einmal anprobieren wollte, wurde er ganz überschwenglich und meinte, das Kleid schreie förmlich nach der Baronin.« Die Kinder warteten auf diesen Moment und rannten dann panisch-hysterisch den Gang entlang ins Kinderzimmer.
     
    Es gibt ein im Salon aufgenommenes Bild von Emmy kurz nach der Hochzeit mit Viktor. Sie muss bereits mit Elisabeth schwanger sein, man merkt aber noch nichts. Sie ist á la Marie Antoinette gekleidet, in einem kurzen Samtspenzer über einem langen weißen Rock, ein Spiel zwischen Strenge und Nonchalance. Ihre Löckchen entsprechen dem, was im Frühjahr 1900 à la mode ist: »Die Frisur ist weniger steif als früher; Stirnfransen sind verboten. Das Haar wird zuerst in

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