Der Hase mit den Bernsteinaugen
aufzubewahren. Der Staub füllt die feinen Vertiefungen aus, vergröbert die Erhöhungen, tötet die Glanzlichter und raubt die unendliche Zierlichkeit der eigenartigen Schnitzerei. Stehen die Netsuke aber mit anderen Kuriositäten und Bibelots auf Kaminsimsen und anderen zugänglichen Stellen, so sind sie der Gefahr ausgesetzt, von dem unachtsamen Dienstpersonal zerbrochen, auch wohl mit weg gekehrt oder von einem Damenbesuch in einer Kleiderfalte davongetragen zu werden. Eines meiner Netsuke hat eines Abends eine solche Reise unbemerkt durch viele Strassen mitgemacht, bis es entdeckt und von der liebenswürdigen Entführerin zurückgesandt wurde!«
Nirgendwo könnten sich die Netsuke sicherer fühlen als hier. Unachtsame Domestiken halten sich nicht lange in Emmys Palais: Verschüttet ein Mädchen Milch aus dem Kännchen aufs Tablett, fährt sie es an. Ein zerbrochener Harlekin im Salon bedeutet Entlassung. In ihrem Ankleidezimmer staubt zwar eines der Stubenmädchen die Möbel ab, doch nur Anna darf die Vitrine für die Kinder öffnen, bevor sie die Kleider ihrer Herrin für den Abend zurechtlegt.
Die Netsuke sind nicht mehr Teil des Salonlebens, gehören nicht mehr zum Spiel geschliffener Unterhaltung. Niemand wird sich über die Qualität der Schnitzerei äußern oder die Blässe der Patina. Sie haben jede Verbindung zu Japan verloren, ihren Japonismus, sie sind jeder Kritik entzogen. Sie sind echte Spielsachen geworden, wirkliche Nippes: Wenn ein Kind sie in die Hand nimmt, wirken sie nicht so klein. Im Ankleidezimmer gehören sie zur Intimität von Emmys Leben. Hier ist der Raum, wo sie sich mit Annas Hilfe auskleidet, wo sie sich für die nächste Begegnung mit Viktor, einer Freundin, einem Liebhaber anzieht. Hier gibt es eine eigene Art Schwelle.
Je länger Emmy mit den Netsuke lebt und ihre Kinder damit spielen sieht, desto mehr wird ihr klar, dass sie ein zu intimes Geschenk sind, um sie öffentlich herzuzeigen. Ihre engste Freundin, Marianne Gutmann, besitzt ein paar Netsuke - elf, um genau zu sein -, doch die sind in ihrem Landhaus. Sie haben sich gemeinsam darüber amüsiert. Aber wie soll man die schiere Menge dieser unkonventionellen und außergewöhnlichen ausländischen Schnitzereien bloß den Damen der Israelitischen Kultusgemeinde, der IKG, erklären? Sie tragen ein schmales dunkles Bändchen an der Kleidung; sie helfen galizischen Mädchen aus den Schtetln, eine ehrliche Arbeit zu finden. Das wäre unmöglich.
Es ist wieder April, ich bin ins Palais zurückgekehrt. Aus dem Fenster von Emmys Ankleidezimmer schaue ich durch die kahlen Lindenzweige Richtung Votivkirche und Währinger Straße; bei der fünften Kreuzung geht es rechts zu Doktor Freuds Haus in der Berggasse 19, wo er sich über Emmys verstorbene Großtante Anna von Lieben Notizen machte, Fallname Cäcilie M., eine Frau mit einer »hysterischen Abwehr«, schweren Gesichtsneuralgien und Gedächtnisverlust, die man zu ihm geschickt hatte, weil »keiner wusste, was mit ihr anfangen«. Fünf Jahre lang war sie bei ihm in Behandlung, sie redete so viel, dass er sie überzeugen musste, es aufzuschreiben: In den »Studien über Hysterie« nannte er sie seine »Lehrmeisterin«.
Er schreibt, hinter sich Schrank um Schrank voller Antiquitäten. Rosenholz und Mahagoni und Biedermeiervitrinen mit hölzernen und gläsernen Borden, mit etruskischen Spiegeln und ägyptischen Skarabäen und Mumienporträts und römischen Totenmasken, umnebelt von Zigarrenrauch. An diesem Punkt wird mir klar, dass ich allmählich obsessiv werde, was diesen meinen besonderen Forschungsgegenstand betrifft: die Vitrinen des Fin de Steele. Auf Freuds Schreibtisch liegt ein Netsuke in der Form eines shishi, eines Löwen.
Mein Zeitmanagement funktioniert beinahe nicht mehr. Eine Woche habe ich damit verbracht, Adolf Loos zu lesen, wie er sich über japanischen Stil als »das Aufgeben der Symmetrie« äußert, wie er Dinge und Menschen »entkörperlicht«: »Die Japaner stellen Blumen dar, aber es sind gepreßte Blumen.« Ich sehe, dass er die Secessionssausstellung 1900 gestaltet hat, wo eine riesige Sammlung japanischer Artefakte gezeigt wurde. In Wien, denke ich, ist Japan unausweichlich.
Dann entschied ich, ich müsse mir den polemischen Karl Kraus einmal im Detail ansehen. In einem Antiquariat kaufte ich ein Heft der Fackel, um mir die besondere Farbe des Umschlags zu Gemüte zu führen. Es war rot, passend für eine zornige Satirezeitschrift mit einem solchen
Weitere Kostenlose Bücher