Der Hase mit den Bernsteinaugen
große Wellen gelegt, dann zurückgekämmt und in einen nicht allzu hohen Knoten geschlungen … Einige Locken dürfen in die Stirn fallen und sich auf natürliche Weise kringeln«, schreibt ein Journalist. Emmy hat einen schwarzen Federhut aufgesetzt. Die eine Hand ruht auf einer französischen Kommode mit Marmordeckel, die andere hält einen Spazierstock. Sie muss eben aus dem Ankleidezimmer gekommen und auf dem Weg zu einem Ball sein. Sie sieht mich selbstbewusst an, ihr ist klar, wie phantastisch sie aussieht.
Emmy hat ihre Verehrer - viele Verehrer laut meinem Großonkel Iggie -, und das Ankleiden für andere macht ebenso viel Freude wie das Ausziehen. Seit Beginn ihrer Ehe hat sie auch Liebhaber.
Das ist in Wien nichts Ungewöhnliches. Es ist ein wenig anders als in Paris. Wien ist die Stadt der Chambres separees in den Restaurants, dort wird gegessen und verführt, wie in Schnitzlers »Reigen«: »Ein Cabinet particulier im Riedhof. Behagliche, mäßige Eleganz. Der Gasofen brennt … Auf dem Tisch sind die Reste einer Mahlzeit zu sehen; Obersschaumbaisers, Obst, Käse. In den Weingläsern ein ungarischer weißer Wein. Der GATTE raucht eine Havannazigarre, er lehnt in der Ecke des Diwans. DAS SÜSSE MÄDEL sitzt neben ihm auf dem Sessel und löffelt aus einem Baiser den Obersschaum heraus, den sie mit Behagen schlürft …« Im Wien der Jahrhundertwende gibt es den Kult des süßen Mädels, Mädchen aus dem Volk, die für Liebeleien mit jungen Männern aus gutem Hause leben. Endlos wird geflirtet. Strauss’ »Der Rosenkavalier« mit dem Libretto Hofmannsthals - in dem wechselnde Kostüme, wechselnde Liebhaber und wechselnde Hüte die Unterhaltung am Laufen halten - ist 1911 neu und sehr populär. Schnitzler hat Probleme, seinem Tagebuch vertraut er an, wie oft er Geschlechtsverkehr hatte, um den Anforderungen seiner zwei Geliebten gerecht zu werden.
Sex ist allgegenwärtig in Wien. Auf den Trottoirs wimmelt es von Prostituierten, sie inserieren auf den hinteren Seiten der Neuen Freien Presse. Jedermann und alle Bedürfnisse werden befriedigt. Karl Kraus zitiert sie in seiner Zeitschrift Die Fackel: »Reisegenosse gesucht, jung, nett, Christ, unabhängig. Briefe unter >Conträr 69<, postlagernd Habsburgergasse.« Freud debattiert über Sex. In Otto Weiningers »Geschlecht und Charakter«, dem Kultbuch von 1903, werden Frauen als von Natur aus amoralisch und führungsbedürftig dargestellt. Der Sex ist golden in Klimts »Judith«, »Danae«, »Der Kuss«, gefährlich in den taumelnden Körpern Schieies.
In Wien eine moderne Frau, auf der Höhe der Zeit zu sein, bedeutet, dass das häusliche Leben einen gewissen Spielraum zulässt. Einige von Emmys Tanten und Cousinen sind Vernunftehen eingegangen, zum Beispiel ihre Tante Anny. Jeder weiß, dass Hans Graf Wilczek der wirkliche Vater von Emmys Cousins ist, den Zwillingen Herbert und Witold Schey von Koromla. Graf Wilczek sieht gut aus und ist äußerst glamourös: ein Entdecker, Financier einer Arktis-Expedition und enger Freund des verstorbenen Kronprinzen Rudolf; Inseln sind nach ihm benannt.
Ich habe meine Rückkehr nach London aufgeschoben; endlich bin ich Ignaz’ Testament auf der Spur, und jetzt möchte ich sehen, wie er sein Vermögen aufgeteilt hat. Die Heraldisch-Genealogische Gesellschaft Adler ist am Mittwoch nach sechs Uhr abends für Mitglieder und deren Gäste zugänglich. Ihre Räume liegen hinter einem großen Vorzimmer im zweiten Stock eines Hauses unweit von Freuds Wohnung. Gebückt gehe ich durch eine niedrige Tür und komme in einen langen Gang, an dem Porträts der Wiener Bürgermeister hängen. Links stehen Bücherschränke mit Ablageboxen für Todesfälle und Nachrufe, rechts ist der Adel, aufgelistet in den Bänden des Debrett und des Almanach de Gotha. Alles andere ist geradeaus. Schließlich sehe ich Leute, die an ihren Projekten arbeiten, Aktenordner herumtragen, Hauptbücher kopieren. Ich weiß nicht, wie es bei genealogischen Gesellschaften anderswo zugeht, aber hier erschallt manchmal unerwartet lautes Gelächter, Forscher rufen auf den Gang hinaus und bitten jemanden um Hilfe beim Entziffern unleserlicher Handschriften.
Sehr vorsichtig frage ich nach den Freundschaften meiner Urgroßmutter Emmy von Ephrussi, geborene Schey von Koromla, um 1900. Kollegenscherze fliegen hin und her. Emmys Liaisons aus der Zeit vor hundert Jahren sind kein Geheimnis, man kennt alle ihre ehemaligen Geliebten: Jemand erwähnt einen
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