Der Hase mit den Bernsteinaugen
leben, so wie euer Vater sich darum kümmert.
Jede Woche skandieren die Studenten etwas Neues. Es beginnt mit »Serbien muss sterbien«, dann kommen die Russen dran: »Jeder Schuss a Russ!« Dann die Franzosen. Und es wird Woche für Woche derber. Emmy macht der Krieg zu schaffen, aber auch, welche Auswirkungen das Gebrüll auf die Kinder haben wird. Sie essen nun an einem kleinen Tisch im Musikzimmer, das auf die Schottengasse geht, dort ist es etwas ruhiger.
Iggie besucht das Schottengymnasium. Es ist eine sehr gute Schule, von den Benediktinern geführt, ganz in der Nähe, eine der zwei besten Wiener Schulen, so sagte er mir. Die Tafel an der Mauer, auf der etliche berühmte Schriftsteller verzeichnet sind, lässt das vermuten. Obwohl die Lehrer Mönche sind, gibt es viele jüdische Schüler. Die Schule legt besonderen Wert auf klassische Bildung, auch Mathematik, Algebra, Infinitesimalrechnung, Geschichte und Geographie werden unterrichtet, unwichtige Gegenstände für diese drei Kinder, die mit ihrer Mutter Englisch und Französisch und mit ihrem Vater Deutsch sprechen. Russisch sprechen sie nur ein wenig, Jiddisch gar nicht. Außer Haus sollen sie nur Deutsch sprechen. Bei Geschäften mit fremd klingenden Namen sind Männer mit Leitern gekommen und haben die Aufschriften überklebt.
Mädchen dürfen das Schottengymnasium nicht besuchen. Gisela wird zuhause, im Zimmer neben Emmys Ankleideraum, von ihrer Gouvernante unterrichtet. Elisabeth hat mit Viktor verhandelt und hat nun einen privaten Hauslehrer. Emmy ist dagegen. Sie ist so verärgert über dieses ungehörige, komplizierte Arrangement für ihre Tochter, dass Iggie sie im Salon schreien und dann etwas zerbrechen hört, vielleicht Porzellan. Elisabeth folgt aufs Haar dem Lehrplan, der für Jungen ihres Alters im Schottengymnasium gilt, sie darf nachmittags ins Schullabor gehen und mit einem Lehrer eine Privatstunde nehmen. Ihr ist klar, wenn sie auf die Universität will, muss sie die Abschlussprüfung dieser Schule bestehen. Seit sie zehn ist, weiß Elisabeth, dass sie aus diesem Zimmer, dem Schulzimmer mit dem gelben Teppich, in einen bestimmten Raum kommen muss, den Vorlesungssaal der Universität. Sie ist nur etwa hundert Meter entfernt, aber für ein Mädchen könnten es genauso gut tausend Kilometer sein. Es gibt mehr als neuntausend Studenten in diesem Jahr, nur 120 davon sind weiblich. Von Elisabeths Zimmer aus kann man nicht in den Vorlesungssaal blicken. Ich habe es versucht. Aber man kann dessen Fenster sehen, man kann sich die ansteigenden Sitzreihen vorstellen, den Professor, der sich vorne über sein Pult beugt. Er spricht zu dir. Wie im Traum bewegt sich deine Hand über die Mitschrift.
Iggie geht ungern ins Schottengymnasium. In drei Minuten kann man dorthin laufen, mit einer Schultasche am Rücken habe ich es allerdings nicht versucht. Es existiert ein Klassenfoto aus dem Jahr 1914, dritte Klasse: dreißig Jungen in grauen Flanellanzügen mit Krawatten oder in Matrosenanzügen, auf ihre Pulte gestützt. Zwei Fenster stehen zum fünf Stock hohen Innenhof hin offen. Ein Idiot schneidet Grimassen. Der Lehrer steht hinten, unerschütterlich in seinem Mönchshabit. Auf der Rückseite des Fotos haben sich alle unterschrieben, all die Georgs, Fritzs, Ottos, Maxs, Oskars und Ernsts. Iggie hat in einer schönen Schrägschrift unterzeichnet: Ignaz v. Ephrussi.
An der Rückwand ist eine Tafel, auf die geometrische Beweise gekritzelt sind. Heute haben sie gelernt, wie man die Oberfläche eines Kegels berechnet. Iggie kommt jeden Tag mit Hausaufgaben heim. Er findet das scheußlich. Er ist schlecht in Algebra und Infinitesimalrechnung und hasst Mathematik. Siebzig Jahre später konnte er mir alle Brüder aufzählen und was sie ihm vergeblich beizubringen versucht hatten.
Und er bringt Reime nachhause:
»Heil Wien! Heil Berlin!
In 14 Tagen in Petersburg drin!«
Es gibt auch schlimmere. Viktor goutiert sie gar nicht, er liebt St. Petersburg und ist in Russland geboren, obwohl er nun natürlich Österreicher ist und Wien liebt.
Für Iggie bedeutet der Krieg Soldatenspielen. Ihre Cousine Piz - Marie-Louise von Motesiczky - erweist sich als besonders guter Soldat. Im Palais gibt es eine Dienertreppe hinter einer versteckten Tür, eine breite Schneckenspirale mit 136 Stufen, die bis zum Dach führt; öffnet man dort die Tür, steht man plötzlich über den Karyatiden und Akanthusblättern und kann über ganz Wien schauen. Wendet man sich langsam im
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