Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
Vom Netzwerk:
Uhrzeigersinn, sieht man zuerst die Universität, dann die Votivkirche, dann den Stephansdom, die Kuppeln und Türme von Oper, Burgtheater und Rathaus und wieder die Universität. Wer sich wohl traut, auf die Brüstung zu klettern und durch das Glasdach in den Innenhof zu spähen? Oder man kann die winzigen dahinhuschenden Bürger und ihre Damen auf dem Franzensring oder in der Schottengasse abknallen. Dafür nimmt man Kirschkerne, eine Rolle aus steifem Papier und bläst fest hindurch. Direkt unter ihnen ist ein Kaffeehaus mit einer breiten Markise, ein besonders lockendes Ziel. Die Ober in ihren schwarzen Schürzen sehen hoch und schimpfen, dann muss man sich ducken.
    Und man kann auf das Dach des Palais Lieben nebenan steigen, dort wohnen noch mehr Verwandte.
    Oder sie spielen Spion und gehen die Treppe hinunter in das Kellergewölbe, dort ist ein Gang, der führt unter Wien hindurch bis Schönbrunn. Oder bis zum Parlament. Oder in die anderen Gänge, von denen sie gehört haben, ein Labyrinth, in das man durch die Litfaßsäulen an der Ringstraße einsteigen kann. Dort sollen sich die Kanalstrotter aufhalten, flüchtige, schattenhafte Existenzen, sie leben von den Münzen, die aus den Hosentaschen durch die Kanalgitter fallen.
    Der Haushalt und die Familie tragen das ihre zum Krieg bei. 1915 dient Onkel Pips als kaiserlicher Verbindungsoffizier beim deutschen Oberkommando in Berlin; ihm ist es zu verdanken, dass Rilke einen Schreibtischposten fern der Front erhält. Papa ist vierundfünfzig und dienstbefreit. Die Diener im Palais sind verschwunden, außer dem Butler Josef, er ist zu alt für die Einberufung. Eine kleine Schar Dienstmädchen hat man behalten, dazu die Köchin und Anna, die jetzt fünfzehn Jahre bei der Familie ist, anscheinend jedermanns Bedürfnisse errät und eine Begabung dafür hat, die Gemüter zu beruhigen. Sie weiß alles. Es gibt keine Geheimnisse vor der Zofe, wenn man nach dem Mittagessen heimkommt und das Tageskleid wechseln muss.
    In diesen Tagen ist das Haus viel stiller. Viktor hat früher Freunde der Dienerschaft, die gerade nicht in Stellung waren, eingeladen, an den Sonntagen zum Mittagessen zu kommen, es gab gekochtes und gebratenes Fleisch. Das geschieht nicht mehr; im Dienerzimmer herrscht Leere. Es gibt keine Stallknechte und Kutscher mehr, keine Kutschpferde; wenn man in den Prater will, nimmt man einen der Fiaker vom Stand in der Schottengasse oder fährt sogar mit der Straßenbahn. Es finden keine Gesellschaften mehr statt. In Wirklichkeit heißt das, dass einfach viel weniger Gesellschaften gegeben werden und dass sie anders ablaufen. Man kann sich nicht im Ballkleid sehen lassen, aber immerhin noch zum Abendessen oder in die Oper ausgehen. In ihrer Erinnerung schreibt Elisabeth: »Mama lud nur zum Tee und spielte Bridge.« Bei Demel werden nach wie vor Kuchen verkauft, aber bei den Einladungen sollte man nicht zu viele anbieten.
    Emmy zieht sich nach wie vor jeden Abend um, man darf sich nicht gehenlassen. Herr Schuster kann seinen jährlichen Besuch in Paris leider nicht mehr absolvieren, um Kleider für die Baronin einzukaufen, aber Anna kennt sie ja so gut und ist äußerst geschickt darin, die Garderobe instand zu halten und nach eifrigem Studium der neuesten Journale die Kleider umzuarbeiten. Auf einer Fotografie Emmys aus diesem Frühling trägt sie ein langes schwarzes Kleid und eine Art schwarzes Pillbox-Hütchen aus Bärenfell - einen Kolpak - mit einer weißen Reiherfeder und eine Perlenschnur bis zur Taille, und stünde auf der Rückseite kein Datum, man wüsste nicht, dass Wien im Krieg war. Ich überlege, ob es ein Kleid aus der letzten Saison war und wie ich das bloß herausfinden könnte.
    Wie immer kommen am Abend Gisela und Iggie ins Ankleidezimmer und unterhalten sich mit Emmy. Sie dürfen selbst die Vitrine aufsperren. Man spielt nicht mehr auf dem Teppich mit den Netsuke, wenn man ein zehnjähriges Mädchen, ein achtjähriger Bub ist, das ist ja ziemlich kindisch, aber man langt immer noch tief in den Glasschrank hinein und sucht das Bündel Kienspäne und die Hündchen, wenn es ein schlechter Tag war und Bruder Georg einen angebrüllt hat.
    Viele, viele Menschen sind auf der Straße. Es sind Juden - 100000 Flüchtlinge allein aus Galizien -, die in schrecklichen Massenausweisungen von der russischen Armee vertrieben wurden. Manche wohnen in Baracken, wo es die nötigsten Einrichtungen gibt, aber die reichen für Familien nicht aus. Viele schlagen sich

Weitere Kostenlose Bücher