Der Hase mit den Bernsteinaugen
in die Leopoldstadt durch und leben unter schlimmen Bedingungen. Andere betteln. Es sind keine Hausierer mit einem kargen Angebot an Ansichtskarten und Bändern, diese hier haben gar nichts zu verkaufen. Die Israelitische Kultusgemeinde organisiert Hilfsaktionen.
Die assimilierten Juden machen sich Sorgen wegen dieser Neuankömmlinge; ihr Benehmen gilt als ziemlich vulgär, ihre Sprache, ihre Kleidung und Gebräuche passen nicht zur Bildung der Wiener. Man fürchtet, sie könnten die Assimilation gefährden. »Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein; es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien«, schreibt Joseph Roth. »Niemand nimmt sich ihrer an. Ihre Vettern und Glaubensgenossen, die im ersten Bezirk in den Redaktionen sitzen, sind >schon< Wiener und wollen nicht mit Ostjuden verwandt sein oder gar verwechselt werden.« Vielleicht, denke ich, ist das die Angst der jüngst Angekommenen vor den eben erst Eingetroffenen. Sie sind noch im Übergangsstadium.
Die Straßen haben sich verändert. Die Ringstraße ist zum Flanieren da. Sie ist gedacht für zufällige Begegnungen, einen gelegentlichen Kaffee vor dem Cafe Landtmann, für das Begrüßen von Freunden, für erhoffte Treffen auf dem Korso. Sie ist ein gemächlich dahinfließender Menschenstrom.
Aber Wien scheint jetzt zwei Gangarten zu haben. Die eine ist das Tempo der marschierenden Soldaten, der Kinder, die neben ihnen herlaufen, die andere ist der Stillstand. Es fällt auf, dass sich die Leute vor den Geschäften um Lebensmittel, um Zigaretten, um Nachrichten anstellen. Jeder redet vom Anstellen. Die Polizei vermerkt, wenn sich wegen verschiedener Waren Schlangen bilden. Im Herbst 1914 sind es Mehl und Brot, im Frühjahr 1915 Milch und Kartoffeln. Im Herbst 1915 ist es Öl. Im März 1916 ist es Kaffee, im Monat darauf Zucker. Im nächsten Monat Eier. Im Juli 1916 ist es Seife. Und dann ist es alles. Die Stadt ist sklerotisch.
Auch der Umlauf der Dinge in der Stadt hat sich geändert. Es gibt Geschichten vom Horten, reiche Männer sollen in ihren Zimmern bis zur Decke gestapelt Kisten voller Lebensmittel verstecken. Gewisse »Kaffeehaustypen«, so geht das Gerücht, sollen profitieren. Gut geht es nur denen, die Nahrungsmittel zur Verfügung haben, diesen »Typen« eben oder den Bauern. Um Lebensmittel zu ergattern, trennt man sich von immer mehr Besitztümern. Gegenstände werden aus dem Haushalt genommen und in Währung verwandelt. Man erzählt von Bauern, die den Frack eines Wiener Bürgers tragen, von Bäuerinnen in Seidenroben. Bauernhäuser sind voller Klaviere, Porzellan, Nippsachen und Orientteppiche. Klavierlehrer, so heißt es, würden aus Wien aufs Land zu ihren neuen Schülern ziehen.
Die Parks haben sich verändert. Es gibt weniger Parkwächter, weniger Straßenkehrer. Der Mann zum Beispiel, der im Park auf der anderen Seite des Rings morgens zuerst die Wege sprengt, ist nicht mehr da. Die Wege waren immer staubig, jetzt ist es noch schlimmer.
Elisabeth ist fast sechzehn. Wenn Viktor die Bücher für seine Bibliothek binden lässt, darf sie jetzt ihre Bücher in Maroquin mit marmorierten Deckeln binden lassen. Es ist ein Übergangsritual, ein Zeichen, dass ihre Lektüre Bedeutung besitzt. Zugleich kann sie ihre Bücher von denen ihres Vaters unterscheiden - diese kommen in meine Bibliothek, jene in deine - und als eine Einheit kennzeichnen. Wenn er aus Berlin auf Besuch kommt, trägt ihr Onkel Pips auf, Briefe seines Freundes, des Theaterdirektors Max Reinhardt, abzuschreiben.
Gisela ist elf und erhält im Frühstückszimmer Zeichenstunden. Sie ist sehr begabt. Iggie ist neun und darf nicht hinein. Er kennt die Uniformen der kaiserlichen Regimenter (hellblaue Hosen bei der Infanterie, blutroter Fes für die hellblauen Bosniaken) und hält die Farben ihrer Röcke in seinem mit einem purpurnen Seidenband zugebundenen kleinen ledernen Notizbuch fest. Im Ankleidezimmer, der Schrank mit den Netsuke steht vergessen da, nennt Emmy ihn ihren Garderobeberater.
Er beginnt Kleider zu zeichnen. Heimlich.
Iggie schreibt eine Geschichte in ein Oktavheft mit einem Boot auf dem Umschlag. Es ist Februar 1916.
»Fisherman Jack. Eine Geschichte von I. L. E.
Widmung. Der liebsten Mama ist dieses kleine Bändchen in Liebe gewidmet.
Vorwort. Diese Geschichte ist sicher überhaupt nicht perfekt, aber eine Sache ist, glaube ich, gut gelungen: Ich habe die Personen in dem Buch deutlich beschrieben.
Kap. l. Jakob und sein Leben.
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