Der Hase mit den Bernsteinaugen
Jakob war in seinem kurzen Leben nicht immer Fischer gewesen, zumindest nicht bis zum Tod seines Vaters …«
Im März verfasst die IKG einen offenen Brief an die Wiener Juden: »Jüdische Mitbürger! In Erfüllung ihrer offenkundigen Pflicht haben unsere Väter, Brüder und Söhne ihr Blut und ihr Leben als tapfere Soldaten in unserer glorreichen Armee geopfert. Mit einem ähnlichen Pflichtbewusstsein haben die Daheimgebliebenen ihr Eigentum freudig auf dem Altar des geliebten Vaterlandes geopfert. So sollte der Ruf des Staates nun wieder ein patriotisches Echo in uns allen wachrufen!« Die Wiener Juden tragen weitere 500000 Kronen zu den Kriegsanleihen bei.
Überall gibt es Gerüchte. Karl Kraus: »Was sagen Sie zu den Gerüchten? Ich bin besorgt. In Wien sind Gerüchte verbreitet, daß in Österreich Gerüchte verbreitet sind. Sie gehen sogar von Mund zu Mund, aber niemand kann einem sagen -«
Im April spielen Soldaten auf Urlaub, Überlebende der Schlacht von Uscieczko, auf der Bühne eines Wiener Theaters die Ereignisse der Schlacht nach. Kraus, erbost über diese Reduzierung realer Geschehnisse auf ein Spektakel, lässt eine grimmige Attacke auf die zunehmende Theatralisierung des Krieges los. Das Problem ist: »die Sphären fließen ineinander«.
Die Grenzen verschwimmen im Wien der Kriegszeit.
Das bedeutet, dass es für die Kinder viel zu sehen gibt. Ihr Balkon ist ein wunderbarer Aussichtspunkt.
Am it. Mai geht Elisabeth in die Oper, um mit ihrer Cousine Wagners »Meistersinger« zu hören. »Heilige deutsche Kunst«, schreibt sie in das kleine grüne Buch, in dem sie alle Konzert- und Theaterbesuche notiert. Patriotisch unterstreicht sie das Wort »deutsche«.
Im Juli nimmt Viktor die Kinder zur Kriegsausstellung im Prater mit. Sie soll die Kriegsanstrengungen im Hinterland bündeln: Die Moral soll gehoben und Geld aufgetrieben werden. Am interessantesten ist eine Hundeschau, bei der Armeehunde, Dobermänner, ihre Kunststücke vorführen. In den vielen Ausstellungsräumen sehen die Kinder erbeutete Artillerie. Ein realistisches Bergpanorama zeigt eine Schlachtenszene, so dass sie sich die jungen Männer vorstellen können, die an der Grenze mit den Italienern im Gefecht liegen. Soldaten, die ihre Gliedmaßen verloren haben, Tubaspieler mit Beinprothesen geben ein Konzert. Beim Ausgang ist ein Zigarettenzimmer, wo man Tabak für die Soldaten spenden kann.
Es gibt auch zum ersten Mal einen täuschend echt nachgebauten Schützengraben zu sehen. Er schildere, notiert Kraus mit beißender Ironie, das Leben im Schützengraben »mit treffendem Realismus«.
Am 8. August bekommt Elisabeth in Kövecses ein dunkelgrünes Buch mit Gedichten ihrer mütterlichen Großmutter Evelina geschenkt, erschienen 1907 in Wien. Die Widmung lautet: »Verklungen waren mir die alten Lieder / Da sie dir klingen - klingen sie mir wieder«. Viktor erledigt seine Pflichten in der Bank, eine unbedankte Aufgabe in Kriegszeiten, wo junge, fähige Männer meist an der Front stehen. Er ist großzügig und patriotisch in seiner finanziellen Unterstützung, zeichnet viele Kriegsanleihen. Dann kauft er noch mehr. Obwohl ihm Gutmann und andere Freunde im Wiener Club raten, sein Geld so wie sie in die Schweiz zu transferieren, kommt er diesem Ratschlag nicht nach. Das wäre unpatriotisch. Beim Abendessen fährt er sich mit der Hand übers Gesicht, von der Stirn zum Kinn, und sagt, jede Krise biete auch Gelegenheiten für den, der sie zu erkennen verstehe.
Wenn Viktor abends heimkommt, verbringt er mehr und mehr Zeit in seinem Arbeitszimmer. »Eine Bibliothek«, sagt er und zitiert Victor Hugo, »ist ein Glaubensakt.« Es treffen jetzt weniger Bücher für ihn ein: nichts mehr aus St. Petersburg, Paris, London, Florenz. Er ist enttäuscht von der Qualität eines Bandes, den ein neuer Händler aus Berlin geschickt hat. Wer weiß, was er da drinnen liest, während er seine Zigarren raucht? Manchmal wird ihm ein Tablett mit dem Abendessen hineingebracht. Die Dinge stehen nicht gut zwischen ihm und Emmy, und die Kinder hören öfter, dass sie laut wird.
Vor dem Krieg wurde jeden Sommer mit Leitern, Eimern und Scheuerlappen auf dem Dach über dem Innenhof herumgewerkelt. Da es keine Diener mehr gibt, ist das Glas zwei Jahre lang nicht gereinigt worden. Das einfallende Licht wirkt grauer als früher.
Die Grenzen verschwimmen. Für Kinder ist der Patriotismus unmissverständlich und verwirrend zugleich. Auf der Straße und in der Schule hört
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