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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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Kinderzimmerfenster vorbeimarschieren, ist plötzlich nutzlos.
    Die Lage hat grausame Auswirkungen. Die französischen, österreichischen und deutschen Cousins und Cousinen, russische Staatsbürger, englische Tanten, die gefürchtete Blutsverwandtschaft, all das Revierverhalten, der nomadenhafte Mangel an Vaterlandsliebe werden nun auf Länder aufgeteilt. Auf wie vielen Seiten zugleich kann eine Familie stehen? Onkel Pips wird eingezogen, er sieht flott aus in seiner Uniform, er soll gegen seine französischen und englischen Cousins kämpfen.
    In Wien herrscht große Begeisterung für den Krieg, der das Land von Apathie und Dumpfheit reinigen wird. Der britische Botschafter notiert, »das ganze Volk und die Presse verlangen ungeduldig nach einer sofortigen und gebührenden Bestrafung der verhassten serbischen Rasse«. Schriftsteller stimmen in den Chor der Begeisterung ein. Thomas Mann schreibt einen Essay »Gedanken im Kriege«, Rilke feiert in seinen »Fünf Gesängen« die Auferstehung des Kriegsgottes; Hofmannsthal veröffentlicht in der Neuen Freien Presse ein Kriegsgedicht. Schnitzler sieht das nicht so. Am 5. August schreibt er schlicht: »Der Weltkrieg. Der Weltruin.« Karl Kraus wünscht dem Kaiser einen »guten Weltuntergang«.
    Wien war in Feierstimmung: Junge Männer flanierten zu zweit und dritt durch die Straßen, Blütenzweige an den Hüten, auf dem Weg zum Stellungsbüro; in den Parks spielten Militärkapellen auf. Die Wiener jüdische Gemeinde war frohen Mutes. Das monatliche Informationsblatt der Österreichisch-Israelitischen Union für Juli und August verkündete: »In dieser Stunde der Gefahr betrachten wir uns als vollwertige Staatsbürger … Wir wollen dem Kaiser mit dem Blute unserer Kinder und mit all unserer Habe dafür danken, dass er uns die Freiheit geschenkt hat; wir wollen dem Staat beweisen, dass wir wahre Bürger sind, so gut wie jeder andere. Nach diesem Krieg mit all seinen Schrecken kann es keine antisemitische Agitation geben … Wir werden volle Gleichheit fordern können.« Deutschland werde die Juden befreien.
    Viktor dachte anders. Es war eine selbstmörderische Katastrophe. Er ließ Schutzbezüge über die Möbel im Palais breiten, schickte die Bedienten mit gekürztem Lohn heim und die Familie zu seinem Freund Gustav Springer nahe Schönbrunn, dann zu Verwandten in der Gegend von Bad Ischl; er selbst zog sich ins Hotel Sacher zurück, um den Krieg mit seinen Geschichtsbüchern zu überstehen. Es galt eine Bank zu leiten, schwierig, wenn man mit Frankreich (Ephrussi et Cie, Rue de l’Arcade, Paris), England (Ephrussi and Co., King Street, London) und Russland (Efrussi, Petrograd) im Krieg stand.
    »Dieses Reich muß untergehn«, sagt der Graf in Joseph Roths »Radetzkymarsch«. »Sobald unser Kaiser die Augen schließt, zerfallen wir in hundert Stücke. Der Balkan wird mächtiger sein als wir. Alle Völker werden ihre dreckigen, kleinen Staaten errichten, und sogar die Juden werden einen König in Palästina ausrufen. In Wien stinkt schon der Schweiß der Demokraten, ich kann’s auf der Ringstraße nicht mehr aushalten … Im Burgtheater spielt man jüdische Saustücke, und jede Woche wird ein ungarischer Klosettfabrikant Baron. Ich sag’ euch, meine Herren, wenn jetzt nicht geschossen wird, ist’s aus. Wir werden’s noch erleben!«
    Viele Proklamationen werden in diesem Herbst in Wien verlautbart. Nun, da der Krieg so richtig begonnen hat, wendet sich der Kaiser an die Kinder seines Reichs. Die Zeitungen drucken einen »Brief Sr. Majestät unseres allergnädigsten Kaisers Franz Josef I. an die Kinder im Weltkriege«: Die Kinder seien die Edelsteine aller seiner Völker, der Segen ihrer Zukunft, tausendmal gespendet.
    Nach sechs Wochen wird Viktor klar, dass der Krieg nicht aufhören wird, und er kehrt aus dem Hotel Sacher zurück. Schließlich holt man auch Emmy und die Kinder aus Bad Ischl. Die Schonbezüge werden von den Möbeln genommen. Auf der Straße vor dem Kinderzimmerfenster herrscht lebhaftes Treiben. Es gibt so viel Lärm durch demonstrierende Studenten - »wie hässlich das Singen in den Kaffeehäusern«, notiert Musil in seinem Tagebuch -, durch marschierende Soldaten und Militärkapellen, dass Emmy überlegt, die Kinderzimmer in einen ruhigeren Teil des Hauses zu verlegen. Das geschieht aber nicht. Das Haus ist nicht unbedingt für eine Familie geeignet, meint sie; wir sitzen hier alle wie in einem Glaskäfig, genauso gut könnten wir auf der Straße

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