Der Hase mit den Bernsteinaugen
dunklem Kastanienholz in einer schweißigen, taumelnden Umarmung; der betrunkene alte Mönch im schlampigen Gewand; das Dienstmädchen, das den Boden aufreibt; der Rattenfänger mit offenem Korb. Wenn man sie herausnimmt und in der Hand hält, sind die Netsuke Typen aus dem alten Edo, ganz wie die Altwiener Figuren, die jeden Tag unter dem Strich in der Neuen Freien Presse auf die Wiener Bühne treten.
Wie sie da so in Emmys Ankleidezimmer auf ihren grünen Borden liegen, tun diese täglichen Feuilletons, was Wien gerne tut: Sie erzählen Geschichten über sich selbst.
Mag die schöne Frau in dem absurden rosa Palais auch launisch sein, manchmal schaut sie doch aus ihrem Fenster auf die Schottengasse und erzählt dann ihren Kindern eine Geschichte über den alten Kutscher in seinem armseligen Fiaker, über die Blumenverkäuferin, den Studenten. Die Netsuke sind nun Teil einer Kindheit, sie gehören zur Dingwelt der Kinder. Diese Welt besteht aus Sachen, die sie anfassen, und solchen, die sie nicht anfassen können. Manche Dinge können sie gelegentlich anfassen, andere jeden Tag. Manche Sachen gehören ihnen für immer, andere gehören ihnen, werden aber dann an Schwester oder Bruder weitergegeben.
Die Kinder dürfen nicht ins Silberzimmer gehen, wo die Lakaien das Silber putzen, und auch nicht ins Speisezimmer, wenn ein Diner stattfinden soll. Sie dürfen das Glas ihres Vaters im silbernen Halter nicht berühren, aus dem er seinen schwarzen russischen Tee trinkt; es hat dem Großvater gehört. Viele Sachen im Palais haben Großvater gehört, das Glas aber ist etwas Besonderes. Vaters Bücher liegen auf dem Bibliothekstisch, nachdem sie in den braunen, verschnürten Paketen aus Frankfurt und London und Paris eingelangt sind. Die Kinder dürfen auch das scharfe silberne Papiermesser nicht anfassen, das hier liegt. Später bekommen sie dann die Briefmarken von den Paketen für ihr Album.
Es gibt Dinge in dieser Welt, die die Kinder hören, das Gehör der Erwachsenen aber ist taub für solche Schwingungen. Sie hören die grün-goldene Uhr im Salon (Nixen sind darauf) jede schläfrige Sekunde ticken, während sie bei den Besuchen der Großtanten in gestärkter Steifheit dasitzen. Sie können das Scharren der Kutschpferde im Hof hören, das bedeutet, dass sie endlich in den Park fahren. Auf das Glasdach über dem Innenhof trommelt der Regen, das bedeutet, dass sie nicht fahren.
Es gibt Dinge, die die Kinder riechen und die zu ihrem Bereich gehören: der Rauch der Zigarren ihres Vaters in der Bibliothek, ihre Mutter, der Duft der Schnitzel, der zugedeckten Schüsseln, die am Kinderzimmer vorüber zum Mittagstisch getragen werden. Der Geruch hinter den kratzigen Wandteppichen im Esszimmer, wenn sie sich dahinter verstecken. Und der Duft heißer Schokolade nach dem Eislaufen. Emmy bereitet manchmal welche für sie zu. Die Schokolade wird auf einem Porzellanteller hereingebracht, dann dürfen sie sie in kronengroße Stücke brechen, und diese dunklen Stückchen werden dann von Emmy in einem kleinen Silbertöpfchen über einer purpurroten Flamme geschmolzen. Wenn die Schokolade grau anläuft, gießt sie warme Milch darüber und rührt Zucker hinein.
Es gibt Dinge, die sie mit absoluter Deutlichkeit sehen - die Deutlichkeit von Objekten unter einem Okular. Und es gibt Dinge, die verwischt sind: die Gänge, die sie entlanglaufen, Gänge, die unendlich weit zu reichen scheinen, oder das goldene Aufblitzen eines Gemäldes nach dem anderen, eines Marmortisches nach dem anderen. Achtzehn Türen sind es, wenn man den Gang rund um den Innenhof herumrennt.
Die Netsuke sind aus der Welt eines Gustave Moreau in Paris in die Welt der Dulac-Kinderbücher in Wien übersiedelt. Sie erzeugen ihren eigenen Widerhall, sie gehören nun zum Geschichtenerzählen am Sonntagvormittag, sind Teil von Tausendundeiner Nacht, den Reisen Sindbads des Seefahrers und vom »Rubäiyät« des Omar Khayyäm. Sie sind in ihre Vitrine gesperrt, hinter der Tür des Ankleidezimmers, am Gang, oben nach der hohen Treppe herauf vom Innenhof, hinter dem doppelflügeligen Eichentor, wo der Portier wartet, im Märchenschloss eines Palais an einer Straße aus Tausendundeiner Nacht.
Heil Wien! Heil Berlin!
Das Jahrhundert ist vierzehn Jahre alt, wie Elisabeth, ein ernstes junges Mädchen, das nun schon mit den Erwachsenen am Abendessen teilnehmen darf. Zu Gast sind »angesehene Männer, hohe Beamte, Professoren und hohe Offiziere«; sie hört den
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