Der Hase mit den Bernsteinaugen
von labyrinthischer Verworrenheit.
Henks mangelnde Begabung in finanziellen Angelegenheiten unterschied sich von der seines Schwiegervaters Viktor. Henk konnte die Zahlen tanzen lassen. Mein Vater erzählte mir, wie er drei Ziffernreihen überflog, eine abzog und mit einem Lächeln ein (richtiges) Ergebnis herbeizauberte. Bloß glaubte er, derselbe Taschenspielertrick funktioniere auch mit echtem Geld. Er dachte, es würde alles wieder in Ordnung kommen, der Markt würde sich bewegen, die Schiffe würden einlaufen, die Vermögen wieder einrasten wie sein flaches, chagrin-lederüberzogenes Zigarettenetui. Er täuschte sich einfach über seine Fähigkeiten. Und mir wird klar, dass Viktor nie geglaubt hat, er habe die Kontrolle über all die Zahlenreihen. Sehr spät mache ich mir Gedanken darüber, wie es für Elisabeth gewesen sein mag, als sie erkannte, dass sie einen Mann geheiratet hatte, der mit Geld beinahe so schlecht umgehen konnte wie ihr Vater.
Iggie maturierte im Schottengymnasium und war der Dritte, der das Haus verließ. Ich habe das Foto von seiner Matura und kann ihn zuerst nicht ausmachen, bis ich schließlich in der hinteren Reihe einen ziemlich korpulenten Jüngling im Zweireiher entdecke. Er sieht aus wie ein Börsenmakler. Fliege und Stecktuch, ein junger Mann, der übt, Haltung anzunehmen, überzeugend auszusehen. Sollte man zum Beispiel eine Hand in die Tasche stecken? Oder sind beide Hände in den Taschen besser? Oder sogar, das wirkt am rührendsten, eine Hand in der Weste, die Pose eines clubman?
Zur Feier des Schulabschlusses unternahm er mit seinen Kindheitsfreunden, den Gutmanns, eine Autotour von Wien nach Paris, auf der weiten Route über Norditalien und die Riviera. Sie fuhren in einem Hispano-Suiza, einem elefantenhaft riesigen, märchenhaft luxuriösen Wagen. Auf einem kalten Pass irgendwo in strahlendem Sonnenlicht sitzen drei junge Kerle im Fond, das Verdeck heruntergeklappt, in ihre Automäntel gehüllt, Schutzbrillen über den Kappen. Vor ihnen ist das Gepäck aufgetürmt. Ein Chauffeur hält sich im Hintergrund. Die Kotflügel des Autos verschwinden links im Bild, das Heck rechts. Es wirkt, als wäre der Wagen auf einem winzigen Drehpunkt ausbalanciert, als schwebe er zwischen zwei tiefen Abgründen.
Kein Vergnügen, eine ältere Schwester wie Elisabeth zu haben, falls man studieren will; Iggie aber hat mit Büchern wenig im Sinn. Die Familienfinanzen sind damals weniger prekär – Emmy, eine elegante Fünfundvierzigjährige, kauft wieder Kleider -, aber Iggie soll sich am Riemen reißen und seine Zeit nicht mit endlosen Kinonachmittagen vergeuden. Viktor und Emmy wissen genau, wie seine Zukunft aussehen soll. Iggie soll in die Bank eintreten, soll jeden Morgen mit seinem Vater nach rechts und dann nach links gehen, unter dem Schild mit dem kleinen Schiff, das sich seinen Weg durch die Wellen bahnt, an einem Schreibtisch sitzen, Quod Honestum, durch die Generationen von Joachim zu Ignaz und Leon, dann zu Viktor und Jules, und nun zu Iggie. Schließlich ist Iggie der einzige junge Mann in der ganzen Ephrussi-Sippe; Rudolf ist erst ein - hinreißendes - Kind von sieben Jahren.
Dass es Iggie mit Zahlen nicht besonders hatte, wurde ignoriert. Man schmiedete Pläne für ihn, er sollte in Köln Wirtschaft studieren. Das hätte den Vorteil gehabt, dass Pips - inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, diesmal mit einer glamourösen Filmschauspielerin - ein onkelhaftes Auge auf ihn hätte werfen können. Zum Zeichen seiner endlich eingetretenen Unabhängigkeit bekam Iggie ein kleines Auto geschenkt, er sah gut aus darin. Er überlebte sein Martyrium - drei Jahre deutsche Vorlesungen - und begann in einer Frankfurter Bank zu arbeiten, was »mir die Gelegenheit gab, mich mit allen Phasen des Bankgeschäfts vertraut zu machen«, wie es in einem Jahre später geschriebenen Brief trocken hieß.
Er sprach nicht von jener Zeit, sondern meinte bloß, in Deutschland während der Wirtschaftskrise jüdischer Bankier zu sein sei keine kluge Entscheidung gewesen. Es waren die Jahre des Aufstiegs der Nazis, Hitler erhielt immer mehr Stimmen, die paramilitärische SA verdoppelte ihre Mitgliederzahlen auf 400000, Straßenkämpfe gehörten in den Städten zum Alltag. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt, einen Monat später wurden nach dem Reichstagsbrand Tausende in »Schutzhaft« genommen. Das größte dieser neuen Anhaltelager lag in Bayern, in Dachau.
Im Juli 1933 sollte Iggie
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