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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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ist groß und sieht gut aus; auf einem Bild trägt er Reithosen und einen Militärmantel, er steht im Torbogen des Salons im Palais. Er spielt Saxophon. Das Echo muss in den zunehmend leerer werdenden Räumen herrlich geklungen haben.
    Im Juli 1934 verbrachten Elisabeth und die Buben vierzehn Tage in Wien im Palais, gerade als bei einem von der österreichischen SS angezettelten Putschversuch Bundeskanzler Dollfuß in seinen Amtsräumen ermordet wurde, das Signal für einen Nazi-Aufstand. Er wurde niedergeschlagen, wobei es viele Todesopfer gab; der neue Bundeskanzler, Kurt Schuschnigg, wurde vereidigt, während die Angst vor einem Bürgerkrieg umging. Mein Vater erinnert sich, wie er im Kinderzimmer im Palais aufwachte und ans Fenster lief, ein Feuerwehrwagen raste mit heulender Sirene den Ring entlang. Ich habe versucht, ihm noch mehr Erinnerungen zu entlocken (Naziaufmärsche? bewaffnete Polizei? Krise?), aber er lässt sich nichts einreden. Ein Feuerwehrwagen ist das A und O seines Wien von 1934.
    Viktor tut kaum noch, als wäre er ein Bankier. Möglicherweise deswegen - oder vielleicht ist auch sein Stellvertreter, Herr Steinhäusser, so tüchtig - geht es der Bank gut. Nach wie vor geht Viktor jeden Tag ins Büro, wo er dicke, eng bedruckte Kataloge aus Leipzig und Heidelberg studiert. Er hat begonnen, Inkunabeln zu sammeln, die ersten gedruckten Bücher; seine besondere Passion - die seit dem Zerfall der Monarchie noch intensiver geworden ist - gilt der römischen Geschichte. Die Bücher stehen in der Bibliothek auf der Schottengassenseite in einem hohen Bücherschrank mit Gittertür, der Schlüssel hängt an seiner Uhrkette. Charakteristisch für ihn, dass er etwas so Abstruses - und Teures - sammelt wie frühe lateinische Historien, er interessiert sich eben für Imperien.
    Viktor und Emmy verbringen die Ferien gemeinsam in Kövecses, aber seit dem Tod von Emmys Eltern wirkt der Ort seltsam dezimiert, nur zwei Pferde stehen im Stall, es gibt weniger Wildhüter, und es finden keine großen Jagden mehr statt. Emmy wandert zur Flussbiegung hinunter, vorbei an den Weiden, wo ein Lüftchen weht, und zurück zum Abendessen, wie sie es früher mit den Kindern getan hat, aber wegen ihrer Herzprobleme ist sie jetzt langsam unterwegs. Der Badeteich ist vernachlässigt, am Ufer wispert das Schilf.
    Die Ephrussi-Kinder sind in alle Welt zerstreut. Elisabeth hält sich immer noch in den Alpen auf, inzwischen ist sie ins schweizerische Ascona gezogen; wann immer möglich, kommt sie mit den Buben nach Wien. Anna macht ein großes Aufhebens um sie. Iggie entwirft Kreuzfahrt-Mode in Hollywood. Und Gisela und ihre Familie mussten wegen des Spanischen Bürgerkriegs Madrid verlassen und nach Mexiko gehen.
    1938 ist Emmy achtundfünfzig und sieht immer noch sehr gut aus, sie trägt die Perlenschnur um den Hals geschlungen, ein Strang fällt zur Taille nieder. In Wien herrscht das Chaos, doch das Leben im Palais verläuft seltsam unbewegt. Acht Bedienstete sorgen dafür, dass diese Statik erhalten bleibt. Der Tisch im Esszimmer wird um ein Uhr mittags und dann um acht Uhr abends gedeckt, doch diesmal ist es Rudolf, der nicht erscheint. Sie sagt, er sei dauernd unterwegs.
     
    Viktor ist achtundsiebzig und sieht aus wie sein Vater - und wie das Porträt seines Cousins Charles, das neben dessen Nachruf abgedruckt war. Ich denke an den alten Swann, dessen Züge im Alter ausgeprägter wurden: Die Ephrussi-Nase sticht prächtig hervor. Ich betrachte das Bild Viktors mit dem adrett gestutzten Bart, mir fällt auf, dass er aussieht wie mein Vater heute, und dann denke ich, wie lange es dauern wird, bis auch ich so auszusehen beginne.
    Viktor ist so beunruhigt, dass er täglich mehrere Zeitungen liest. Und er hat recht mit seiner Besorgnis. Seit Jahren gibt es offenen Druck und geheime Unterstützung der österreichischen Nationalsozialisten durch Deutschland. Hitler hat nun gefordert, der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg solle Mitglieder der NSDAP aus dem Gefängnis entlassen und an der Regierung beteiligen. Schuschnigg entspricht diesem Wunsch. Der Druck ist gestiegen und nun reicht es ihm. Er hat sich entschieden, am 13. März eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs von Nazi-Deutschland abhalten zu lassen.
    Als Viktor am Donnerstag, dem 10. März, in den Wiener Club am Kärntner Ring geht, um mit seinen jüdischen Freunden zu Mittag zu essen (zur Tür hinaus, nach links, noch ein paar hundert Meter),

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