Der Hase mit den Bernsteinaugen
Kuverts aus der Schweiz zu sehen, während die Post ins Frühstückszimmer des Palais gebracht wird, der Vater am einen Ende der Tafel schlägt die beigefarbenen Buchkataloge aus Berlin auf, am anderen Ende beschäftigt Mutter sich mit dem Feuilleton, Bruder und Schwester streiten sich mit gedämpfter Stimme. Stelle sich vor, man schlitzt den Umschlag auf und sieht, dass einem Rilke eines seiner »Sonette an Orpheus« und die Abschrift eines Valery-Gedichts geschickt hat. »Es ist mir ganz sonderbar - ein wenig befremdend und doch ganz beglückend wie ein Märchen … Ich kann noch nicht ganz gut begreifen, daß er wirklich mir gehört«, antwortet Elisabeth diesen Abend am Schreibtisch, den sie ans ringseitige Fenster geschoben hat.
Sie wollten sich treffen. »Und lassen Sie es dann keine >kurze< Stunde sein, sondern eine rechte duree ohne ängstliche Zeit-Rechnung«, schrieb er, doch in Wien war es nicht möglich, und dann irrte sich Elisabeth über den Termin einer Begegnung in Paris und musste abreisen, bevor er ankam. Ich finde ihre Telegramme. Rilke im Hotel Lorius in Montreux, 11H15 an Mademoiselle Elisabeth Ephrussi, 3 Rue Rabelais Paris (Response Payee), und ihre Antwort vierzig Minuten später und seine am nächsten Vormittag.
Dann ist er krank und kann nicht reisen; es gibt eine Unterbrechung, während Rilke im Sanatorium ist, wo man eine Behandlung versucht. Dann ein letzter Brief vierzehn Tage vor seinem Tod. Und später ein Päckchen von Rilkes Witwe in der Schweiz mit Elisabeths Briefen an ihn, der Briefwechsel wieder vereint in einem Umschlag, sorgfältig beschriftet und verwahrt in einer Schublade und dann einer anderen in Elisabeths langem Leben.
Als Geschenk »für meine liebe Nichte Elisabeth« ließ Onkel Pips »Michelangelo« von einem Schriftkünstler in Berlin auf Pergament abschreiben und illuminieren, wie ein mittelalterliches Messbuch, dazu in grünes Steifleinen binden. Es ist ein fernes Echo einer frühen Ausgabe von Rilkes »Stundenbuch«, wo jede Stanze mit einer karminroten Initiale beginnt. Es ist eines der Bücher, an die mein Vater sich erinnerte, er stöberte es auf und brachte es mir in mein Atelier. Es liegt vor mir auf meinem Schreibtisch. Ich schlage es auf, da ist die Inschrift von Rilke und dann ihr Gedicht. Es ist ziemlich gut, denke ich, dieses Gedicht über einen Bildhauer, der Dinge schafft. Es ist ganz Rilke.
Als sie achtzig war und ich ungefähr vierzehn, begann ich ihr meine Schuljungengedichte zu schicken und bekam detaillierte Kritiken und Lektürevorschläge zurück. Ich las ständig Gedichte. Still und leidenschaftlich sehnte ich mich nach einem Mädchen in der Buchhandlung, wo ich am Samstag mein Taschengeld für schmale Bände der Faber-Poeten ausgab, und andauernd trug ich Gedichtbände mit mir herum.
Elisabeths Kritik war unverblümt. Sie hasste Sentimentalität, »ungenaue Gefühle«. Sie war der Ansicht, es habe keinen Sinn, strenge poetische Strukturen zu verwenden, wenn das Metrum nicht dem Inhalt entspreche. Keine Gutpunkte für meinen Sonettenkranz über das dunkelhaarige Mädchen in der Buchhandlung. Aber am meisten verachtete sie das Ungefähre, das Verwischen des Wirklichen im Rausch des Gefühls.
Nach ihrem Tod erbte ich viele ihrer Gedichtbände. In ihrem persönlichen Katalogsystem trug Rilkes »Stundenbuch« die Nummer 26, sein Buch über Rodin die Nummer 28, Stefan George ist EE Nr. 36, die Gedichtbände ihrer Großmutter Nr. 63 und 64. Ich schicke meinen Vater in eine Universitätsbibliothek, die einige ihrer Bücher besitzt, um nachzusehen, wann sie sie gelesen hat; spät nachts zwinge ich mich zum Aufhören, als ich immer noch Elisabeths Exemplare französischer Literatur nach Anmerkungen am Rand durchblättere, zwölf Bände Proust, frühe Rilke-Ausgaben, Fetzen vergessener Dichter, ein verschollener Brief. Ich denke an Saul Bellows Herzog, der seine Nächte damit verbringt, Banknoten, die er als Lesezeichen verwendet hatte, aus Büchern zu schütteln.
Wenn ich dann etwas aufspüre, wünsche ich, es wäre nicht geschehen. Ich finde eine Übertragung eines Rilke-Gedichts, die sie hinten auf eine Seite eines Schreibtischkalenders geschrieben hat: Sonntag, 6. Juli, schwarz und rot wie ein Messbuch. Ein durchscheinender Enzian markiert eine Seite in Rilkes »Ephemeriden«; die Adresse eines Herrn Pannwitz aus Wien ist in Valerys »Charmes« eingelegt, eine Fotografie des Salons in Kövecses in »Du Cóte de chez Swann«. Ich komme mir wie
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