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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmund de Waal
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wieder in Wien sein, um in der Bank anzufangen.
    In Deutschland zu bleiben mochte nicht klug sein, es war aber auch keine günstige Zeit, um nach Österreich zurückzukehren. In Wien gingen die Wellen hoch. Der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß hatte angesichts des wachsenden Drucks der Nazis die Verfassung außer Kraft gesetzt. Es gab gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten; an manchen Tagen ging Viktor nicht einmal in die Bank, sondern wartete ungeduldig den ganzen Tag, bis man ihm die Abendzeitungen in die Bibliothek brachte.
    Iggie ließ sich nicht blicken. Er riss aus. Die Gründe fürs Weglaufen begannen mit der Bank - das Feixen, mit dem ihn der Portier immer begrüßte - und hatten dann auf verwickelte Weise mit Wien zu tun. Und mit der Familie: Papa, die alte Köchin Clara und ihre Willkommens-Kalbspastete mit Kartoffelsalat, Anna, die ein solches Getue um seine Hemden machte, sein Zimmer mit dem Biedermeierbett, das an dem vertrauten langen Gang auf ihn wartete, hinter dem Ankleidezimmer, die Tagesdecke, die um sechs Uhr abgenommen wurde.
    Iggie riss aus nach Paris. Er begann in einem »drittklassigen Modehaus« zu arbeiten und lernte Nachmittagskleider zu zeichnen. In einem Atelier verbrachte er Nächte damit, das Zuschneiden zu lernen, er begann ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie die Schere durch ein wogendes Feld aus schillernder grüner Seide fährt. Vier Stunden Schlaf in der Wohnung eines Freundes, auf dem Boden, dann Kaffee und wieder Zeichnen. Fünfzehn Minuten für Mittagessen, Kaffee und wieder weiter.
    Er ist arm: Er lernt Kniffe, wie man seine Kleidung sauber und adrett hält, wie man Manschetten umnäht. Aus Wien erhält er von den Eltern eine regelmäßige kleine Zuwendung, kommentarlos. Und obwohl es für Viktor eine Blamage sein muss, seinen Freunden zu erklären, dass Iggie nicht in die Firma eintreten wird - vielleicht murmelt er nur leise etwas, wenn man ihn fragt, was Iggie in Paris eigentlich macht -, frage ich mich, ob er Sympathie für seinen Sohn empfunden hat. Viktor muss über das Davonlaufen oder Nicht-Davonlaufen Bescheid gewusst haben, so wie Emmy über das Bleiben.
    Iggie ist achtundzwanzig. Wie für Emmy sind auch für ihn Kleider eine Berufung. Die vielen Abendstunden im Ankleidezimmer mit den Netsuke, Anna und seiner Mutter, als er ein Kleid glatt strich, die Details der Spitzen an den Manschetten oder am Hals verglich. Die Verkleidespiele mit Gisela, der Schrankkoffer mit den alten Gewändern, im Abstellraum ganz hinten verwahrt. Die alten Hefte der Wiener Mode, über denen er auf dem Parkettboden im Salon brütete. Iggie wusste Bescheid, wie die Hosen des einen kaiserlichen Regiments sich im Schnitt von denen eines anderen unterschieden, wie man Crepe de Chine im Schrägschnitt trug. Jetzt bemerkt er, dass er nicht so gut ist wie erhofft, aber er hat einen Anfang gemacht.
    Und dann, nach neun schweren Monaten, läuft er wieder davon, nach New York, zu Knaben und Mode, einer in ihrer Kadenz so wunderbaren Dreieinigkeit, dass er als sehr alter Mann nicht anders konnte, als die Überfahrt nach New York lächelnd als eine Art Taufritus von einem Leben ins andere zu beschreiben, in gewisser Hinsicht eine Reise zu sich selbst.
    Ich weiß ein wenig darüber, von seinen ironischen Versuchen her, mir einen besseren Stil in der Kleidung beizubringen, als ich zum ersten Mal bei ihm in Tokio war. In diesem heißen, schwülen Juni in Iggies Wohnung, ernsthaft und übereifrig und ziemlich schmuddelig von meinen Reisen, verstand ich erstmals nicht nur, dass Kleidung wichtig ist, sondern wie sie es ist. Iggie und Jiro, sein Freund in der Nachbarwohnung, gingen mit mir zu Mitsukoshi, dem großen Warenhaus an der Ginza, um ein paar ordentliche Sachen zu kaufen, Leinenjacketts für den Sommer und Hemden mit Kragen. Ihre Haushälterin Frau Nakamura nahm meine Jeans und kragenlosen Hemden mit und brachte sie mit geflickten Nähten, zusammengefaltet, mit kleinen Nadeln an den Aufschlägen und vollzähligen Knöpfen zurück. Einiges war gar nicht mehr dabei.
    Bei einem viel späteren Besuch in Tokio gab mir Jiro eine kleine Karte, die er gefunden hatte: »Baron I. Leo Ephrussi begs to announce his association with Dorothy Couteaur Inc. formerly of Molyneux, Paris«. Die Adresse lautete 695 Fifth Avenue, die Telefonnummer Eldorado 5-0050.
    Das scheint zu passen. Mode war Eldorado für Iggie: Statt Ignaz nannte er sich nun Leo, den Baron hatte er

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