Der Hauch Des Bösen: Roman
andere Richtung ein. »Haben je Studenten und Studentinnen von Ihnen als Models oder Assistenten für Hastings gejobbt?«
»Ja, sicher«, kicherte Leeanne. »Und die meisten brachten hinterher einen ganzen Maxibus voller Beschwerden über ihn vor. Er ist rüde, ungeduldig, gewalttätig und billig. Aber ich kann Ihnen versprechen, sie alle haben eine Menge bei dem Kerl gelernt.«
»Ich hätte gern die Namen.«
»Meine Güte, Lieutenant, ich schicke seit über fünf Jahren Studenten zu dem Mann.«
»Ich hätte gern die Namen«, wiederholte Eve. »Alle, die Sie irgendwo aufgeschrieben haben oder die Ihnen im Gedächtnis geblieben sind. Was ist mit diesem Bild?« Damit hielt sie das Porträt des toten Jungen hoch.
»Oh.« Leeanne griff nach Angies Hand. »Makaber, grauenhaft. Brillant. Er wird bei seiner Arbeit immer besser.«
»Weshalb sagen Sie das?«
»Es ist außerordentlich ausdrucksstark. Und so sollte es auch sein. Todestanz, würde ich es nennen. Die Verwendung von Schatten und Licht. Die Tatsache, dass er sich für Schwarz-Weiß entschieden und dem Körper eine so flüssige Pose verliehen hat. Er hat nicht genug aus dem Gesicht herausgeholt - ja, dort liegt noch ungenutztes Potenzial -, aber alles in allem ist es grauenhaft und gleichzeitig einfach brillant.«
»Sie wählen selbst sehr oft Schwarz-Weiß. Und Sie widmen den Großteil Ihres Buches der Kunst der Schwarz-Weiß-Fotografie und -Bildbearbeitung.«
Leeanne hob überrascht den Kopf. »Sie haben mein Buch gelesen?«
»Ich habe es mir angesehen. Es geht sehr oft um Licht - um die Ausnutzung, den Ausbau, die Herausnahme,
das Filtern oder das völlige Fehlen von Licht und Helligkeit.«
»Ohne Licht gäbe es keine Bilder, und der Ton des Lichts bestimmt den Ton des Bilds. Es gehört zu den Fähigkeiten eines Fotografen, wie er das Licht verwendet, manipuliert oder sieht. Warten Sie einen Moment.«
Damit stand sie auf und lief aus dem Raum.
»Sie verdächtigen sie.« Auch Angie richtete sich auf und musterte Eve scharf.
»Wie können Sie das tun? Leeanne würde keiner Menschenseele jemals etwas antun, schon gar nicht einem Kind. Sie ist einfach nicht fähig, etwas Böses zu tun.«
»Es ist Teil meines Jobs, den Menschen Fragen zu stellen.«
Angie nickte, kam um die Couch herum und nahm Eve gegenüber Platz. »Ihr Job belastet Sie. Ihr Blick verrät ehrliches Mitgefühl, wenn Sie auf einen Toten sehen.« Sie drehte Kenbys Porträt herum. »Selbst wenn das Mitgefühl nicht dauerhaft in Ihren Augen bleibt, lebt es, wie ich denke, weiter in Ihnen fort.«
»Er hat kein Mitgefühl mehr nötig.«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, antwortete Angie, als Leeanne mit einer kleinen Schachtel in den Händen zurück ins Zimmer kam.
»He, das ist ja eine Lochkamera«, platzte Peabody heraus, ehe sie etwas errötend eingestand: »Als ich noch ein Kind war, hatte mein Onkel eine und hat mir gezeigt, wie man sie selber baut.«
Eve meinte schulterzuckend: »Hippies«, sah sich dann aber die seltsame kleine Schachtel etwas genauer an.
»Ah, ja. Die Technik ist sehr alt.« Leeanne legte die Schachtel auf den Tisch, entfernte ein Stück Klebeband und zeigte ihrem Gegenüber das darunter versteckte winzige Loch. »Ein selbst gebauter Kasten, innen Fotopapier, außen Licht und das kleine Loch als Linse, die nicht nur das Licht, sondern auch das Bild in der Schachtel fängt. Halten Sie bitte still«, sagte sie zu Eve.
»Diese Schachtel macht also ein Bild von mir?«
»Ja. Wissen Sie, es ist das Licht, das dieses Wunder bewirkt. Ich bitte alle meine Studenten, selbst eine solche Lochkamera zu bauen und dann damit zu experimentieren. Diejenigen, die dieses Wunder nicht verstehen, machen eventuell gute Fotos, schaffen aber niemals echte Kunst. Wissen Sie, bei der Fotografie geht es nicht nur um Technologie und Werkzeug. Es geht vor allem um das Licht und darum, was es sieht oder was wir selber darin sehen.«
»Geht es vielleicht auch darum, was wir daraus entfernen?«, fragte Eve. »Was wir daraus absorbieren?«
»Möglicherweise ja. Während einige primitive Kulturen die Befürchtung hatten, dass die Kamera ihnen durch die Reproduktion ihres Bildes die Seele raubte, glaubten andere, dass sie ihnen eine Art von Unsterblichkeit verlieh. Wir haben in vielerlei Hinsicht diese beiden Überzeugungen miteinander verschmolzen. Natürlich stehlen wir durch die Bildbearbeitung Sekundenbruchteile der Zeit und machen sie auf diese Art unsterblich. Gleichzeitig aber nehmen
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