Der Hauch Des Bösen: Roman
versuche, die letzten Stunden ihres Lebens zu rekonstruieren. Dann mache ich eine Stunde frei. Peabody, Sie fahren mit Feeney.«
Eve sammelte die Fotos wieder ein. Sie war noch nicht bereit, Rachel Howard an die »Totenwand« zu hängen, wie die Pinnwand im Besprechungszimmer hieß.
»Spätestens um vierzehn Uhr bin ich wieder da.«
6
Für Rachel war es anders gewesen, dachte Eve, als sie das Bildbearbeitungslabor betrat. Sie hatte den Abendkurs besucht, und deshalb hatte sicher deutlich weniger Betrieb als momentan geherrscht. Trotzdem hatte Rachel, wie all die jungen Leute jetzt, an einem Arbeitsplatz gesessen und die Aufnahmen verfeinert, definiert, verändert und bewundert.
Woran hatte sie während des Unterrichts gedacht? Hatte sie sich auf die Arbeit konzentriert oder hatte sie sich vorgestellt, wie der Abend mit ihren Freundinnen wohl würde? Hatte sie, wie auch die Studenten jetzt, Professor Browning zugehört? Oder war sie ganz in ihre eigene Arbeit versunken gewesen, in ihre eigene Welt?
Vielleicht hatte sie mit einem der Jungen, die in ihrer Nähe gearbeitet hatten, geflirtet. Auch jetzt gab es eine Reihe leichter Flirts - Eve erkannte die Körpersprache, die Blickkontakte, das gelegentliche leise Wispern, aus dem eine flüchtige oder langjährige Beziehung erwuchs.
Rachel war gern mit Jungen ausgegangen, hatte gern getanzt. Hatte es genossen, jung zu sein. Und würde niemals alt werden.
Eve blieb beobachtend stehen, während Browning ihre Sachen packte, Aufgaben verteilte und die Studenten und Studentinnen entließ.
Sie verließen den Raum paarweise oder in Gruppen,
und nur ein paar Einzelgänger bahnten sich alleine einen Weg durch die Cliquen in den Korridor hinaus. Diese Dinge hatten sich seit ihrer eigenen Schulzeit offenkundig nicht geändert.
Himmel, sie selbst hatte die Schule abgrundtief gehasst.
Sie war eine Einzelgängerin gewesen, denn es hätte keinen Sinn für sie gehabt, engen Kontakt zu jemandem zu pflegen. Sie war nur auf der Durchreise gewesen, hatte es nicht erwarten können, dem verdammten System endlich zu entkommen und selber zu entscheiden, wohin es weiterging.
An die Akademie. Zur Polizei. Hinein in ein anderes System.
»Lieutenant Dallas.« Browning winkte sie zu sich heran. Trotz ihrer beinahe zahmen Steckfrisur sah sie wiederum üppig und exotisch aus und entsprach so gar nicht dem Bild der bieder-braven Collegeprofessorin.
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von Rachel?«, fragte sie.
»Die Ermittlungen dauern an«, antwortete Eve. »Ich habe noch ein paar Fragen. Woran hat Rachel während des Kurses bei Ihnen gearbeitet?«
»Warten Sie.« Leeanne zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Bei den Einführungskursen im Sommersemester haben wir regelmäßig ein paar Teilzeitstudenten und -studentinnen wie Rachel, größtenteils aber Vollzeitschüler, die so schnell wie möglich ihre Scheine zusammenhaben wollen«, erklärte sie und blätterte die Seiten ihres Buches um. »Es sind nicht so viele Studenten wie im Frühling und im Herbst,
aber... Ah ja, Gesichter. Porträts in der City. Die Beziehung zwischen Fotograf und Bild.«
»Haben Sie eventuell ein paar von ihren Arbeiten zur Hand?«
»Ich müsste ein paar Probebilder und fertige Aufnahmen bei meinen Unterlagen haben. Warten Sie eine Sekunde.«
Sie trat vor ihren Computer, gab erst ihr Passwort und danach eine Reihe von Befehlen ein. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, war Rachel eine sehr gewissenhafte Schülerin. Vor allem aber hatte sie Spaß an diesem Kurs. Sie hätte ihn nicht zu belegen brauchen. Trotzdem hat sie nicht nur herumgesessen, sondern sich wirklich Mühe mit ihren Arbeiten gegeben. Hier. Sehen Sie sich das mal an.«
Sie trat einen Schritt zurück, damit Eve den Bildschirm sah.
»Remke. Das ist der Typ, dem der Feinkostladen gegenüber der Drogerie gehört, in der sie gearbeitet hat.«
»Der leicht zurückgeworfene Kopf und das gereckte Kinn verleihen ihm einen Ausdruck von Härte. Er sieht aus wie eine Bulldogge, finde ich.«
Eve erinnerte sich daran, wie er den Müllmann umgeworfen hatte. »Passt zu ihm.«
»Gleichzeitig aber drücken seine Augen eine gewisse Sanftmut aus. Und sein schweißglänzendes Gesicht steht in deutlichem Kontrast zu den knackig frischen Salaten, die man hinter ihm in der Kühltheke stehen sieht. Sie hat Ort und Perspektive also wirklich gut gewählt. Ein gelungenes Porträt. Sie hat noch ein paar andere gemacht, aber das hier war das beste.«
»Ich hätte gerne
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