Der Hausflug
Quecksilber.“
„Ich möchte es lieber hier oben untersuchen.“
„Ich zieh meinen Skaphander an und bringe es dir.“
„Nein, leg es mir vor die Tür.“
Jonas dachte, daß Xindy die Tür kurz öffnen würde und er dabei einen Blick in die Dach-Kabine werfen könnte, doch es öffnete sich nur ein Stück der Türfüllung, eine Greifzange faßte das Thermometer und zog es in die Kammer.
„Bist du sehr enttäuscht?“ fragte Xindy.
„Nein, ich dachte nur…“
„Ich weiß doch, was du denkst“, sagte Xindy. „Glaube mir, ich würde dir gern die Kabine zeigen, aber es geht nicht.“
„Dann eben nicht“, maulte Jonas. Er war noch nicht am Fuß der Treppe angelangt, da meldete sich Xindy.
„Es ist tatsächlich Phlochl! Weißt du, wo man Quecksilber findet? Auch im Kongo?“
„Keine Ahnung“, brummte Jonas. „Irgendwo in Europa, glaube ich. Meine Mutter arbeitet in einer Fabrik, die auch Meßinstrumente herstellt. Die kriegen ihr Quecksilber aus Spanien oder Italien, wenn ich mich nicht irre.“
„Denk nach!“ mahnte Xindy. „Versuche, dich ganz genau zu erinnern. Du weißt, wie wichtig es für mich ist. Nein, wir fliegen zu dir nach Hause, und du fragst deine Mutter. Das fällt doch nicht auf, wenn du sie nach Quecksilber fragst, oder?“
„Ich fürchte doch“, sagte Jonas. „Mutter wird sich wundern, wenn ich sie plötzlich besuche. Sie wohnt schon über ein Jahr nicht mehr bei uns. Wir sind geschieden, wenn du weißt, was das ist.“
„Nein, weiß ich nicht.“
„Sie lebt mit einem anderen Mann zusammen. Wir sind verzankt, kapito?“
„Ach so“, sagte Xindy. „Schlimm verzankt?“
„Sehr schlimm. Wir reden nicht mehr miteinander.“
„Aber es muß sein“, meinte Xindy. „Würde es dir wirklich so schwerfallen? Es geht um mein Leben.“
„Dafür würde ich ganz andere Sachen tun“, erklärte Jonas. „Aber wir brauchen nicht Mutter, um herauszubekommen, wo es Quecksilber gibt; das steht bestimmt in jedem Lexikon. Ich muß nur in die erstbeste Bibliothek gehen und nachsehen.“
„Gut, wo mag die nächste Bibliothek sein?“
„Ich muß mich berichtigen“, sagte Jonas. „Die erste wird kaum die beste sein. Ich brauche eine Bibliothek, in der es deutsche Bücher gibt, andere Sprachen kann ich nicht.“
„Ihr mit euren verdammten Sprachen! Also zurück nach Europa, ja?“
Jonas stimmte schweren Herzens zu.
„Wieder zurück. Bis hinter die Alpen.“
„Warum bist du so traurig?“ erkundigte sich Xindy. „Freu dich doch mit mir. Jetzt wissen wir, was Phlochl ist.“
„Stimmt. Aber ich habe so gut wie nichts von Afrika gesehen, verstehst du?“
„Ja. Aber versteh mich bitte auch.“
Xindy hatte es jetzt eilig. Er ließ das Haus über die Wolken steigen und raste mit höchster Geschwindigkeit nordwärts. Selbst die Sahara sah aus dieser Höhe nur wie ein großer gelber Fleck aus, vom Mittelmeer erblickte Jonas nichts, weil dicke Wolken die Sicht verhinderten, erst über den Alpen wurde es wieder klarer.
Sie steuerten die erste Stadt an, die sie sahen, Jonas hatte keine Ahnung, welche. Eine große Stadt mit vielen Kirchtürmen. Es schien ihm, als hätte er sie bereits einmal im Fernsehen gesehen. War das Wien? Und das dann die Donau? Ein breiter Fluß zog sich quer durch die Stadt, aber das war in vielen Städten so. Und wo mochte hier eine Bibliothek sein?
Jonas wollte Xindy schon bitten, irgendwo zu landen, damit er sich erkundigen konnte, da erblickte er ein großes Transparent an einem alten, weitläufigen Gebäude.
„Ausstellung: Die schönsten Bücher aus aller Welt.“ Hoffentlich nehmen sie hier mein Geld, dachte er, aber der Eintritt war frei. Er fand auch schnell den Zugang zur „Allgemeinen Bibliothek“, aber er konnte die Frau hinter der Tür nicht davon überzeugen, ihn ohne Lesekarte hineinzulassen.
„Kinder dürfen überhaupt nur in Begleitung Erwachsener hinein“, erklärte sie. „Du bist doch noch nicht vierzehn, oder?“
Was hätte es ihm genützt, sich zwei Jahre älter zu schwindeln? Dann hatte er immer noch keine Lesekarte, und die gab es bestimmt nicht ohne Ausweis.
„Ich will doch nur kurz mal was nachsehen“, sagte er, „nur in den Lesesaal.“
„Ja, das sagen sie alle“, knurrte die Frau, „und hinterher fehlen dann Seiten in einem Buch. Neulich erst…“
„Könnten Sie mir nicht ein Buch herausholen?“ bat Jonas. „Ein Lexikon, bitte, bitte. Ich will nur mal über Quecksilber nachlesen, es ist unheimlich
Weitere Kostenlose Bücher