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Der Heiler

Der Heiler

Titel: Der Heiler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antti Tuomainen
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baldmöglichst zurückzurufen. Ich erreichte Elina und sagte ihr, dass Ahti mich anrufen sollte, sobald er übern Berg war.
    Hamid fuhr auf der Uferstraße von Sörnäinen Slalom und suchte nach der schnellsten Spur, aber es gab keine. Jedes Mal, wenn er rasch vorgestoßen war, verlangsamte sich der Verkehr fast bis auf Schritttempo. Hamid war ein junger Mann und fuhr so, wie es junge Männer immer getan hatten: ohne Benzin zu sparen und ohne sich um Menschenleben zu kümmern. Beides kostete von Tag zu Tag weniger.
    Anders als seit Jahrzehnten prophezeit, war das Öl immer noch nicht versiegt. Ganz im Gegenteil. Das Öl reichte massenhaft für alles, was das Verschwinden der Wasserreserven weiter beschleunigte; es reichte für das endgültige Verpesten der Luft, des Bodens und des Wassers, für die tödliche Verseuchung der Seen, Flüsse und Meere, für die Produktion von Unmengen überflüssiger Waren. Alle, die gefürchtet hatten, das Öl könnte ausgehen, konnten zufrieden feststellen, dass das Öl sogar Vorrang vor dem Erhalt des Lebens hatte. Wenn die Welt eines Tages untergehen würde, gäbe es immer noch Öl in Massen und in ganzen Tankschiffladungen. Milliarden Fässer schwarzen Goldes zur Mitnahme auf die Reise in die Ewigkeit.
    Hamid fand eine Spur, auf der es voranging. Wir kamen auf die Brücke von Kulosaari, wo der Verkehr fast wieder zum Erliegen kam. Die rechte Spur auf der Seeseite war gesperrt, und wir krochen auf der linken Spur vorwärts. Die Rundumleuchten der Feuerwehr färbten mit ihrem blauen Schein den Regen wie in einem Märchen, das zur Gruselgeschichte geworden war. Schon von weitem sahen wir einen Truck, dessen Fahrerkabine noch auf der Brücke hing, während der hintere Teil das Geländer durchschlagen hatte und in ein Bürogebäude gekracht war. Aus der Ferne wirkte es, als wäre die Route des Trucks völlig normal, als wäre er tatsächlich aus dem Bürogebäude auf die Brücke gefahren, ohne dass etwas Besonderes dabei war.
    Aus der Nähe sah es anders aus: Krankenwagen, vorher von den Feuerwehrautos verdeckt, warteten mit geöffneten Türen darauf, dass wenigstens einige der vom Truck überfahrenen Fußgänger und Büroangestellten auf Tragen gelegt, eingeladen und behandelt werden konnten. Wir passierten die Unglücksstelle schweigend. Bald konnten wir wieder volles Tempo fahren, wir durchquerten Kulosaari und erreichten Herttoniemi.
    Vor dem Haus gab ich Hamid die vereinbarte Vorauszahlung. Er fuhr davon, wollte aber innerhalb einer Viertelstunde da sein, wenn ich ihn anrufen würde.
    Die stille, leere Wohnung wirkte noch trauriger als vorher, so als hätte auch sie Kummer und Sorgen und wüsste nicht recht, wie sie wieder gemütlich, warm und beschützend sein sollte. Ich zog die Schuhe aus und konnte gerade noch die nasse Jacke aufhängen, da sackte ich im Flur zusammen. Auf dem Boden kamen mir auch schon die Tränen. Es waren die ersten seit Jahren, sie strömten mir aus den Augen und flossen heiß und schwer über meine Wangen.
    Ich war zu Tode erschöpft, hatte das Gefühl, dass alles umsonst und alle meine Bemühungen zum Scheitern verurteilt waren. Ich war enttäuscht von mir selbst, denn ich hatte Johannas Vertrauen enttäuscht. All die Versprechen, die ich ihr gegeben hatte: Ich werde dir immer helfen, werde dich immer lieben, werde alles tun, damit es dir gutgeht.
    Beruhige dich, Tapani, beruhige dich, sagte ich zu mir.
    Versprechen kann man halten, auch wenn man sie nicht sofort einlöst.
    Ich ließ die Tränen laufen, ließ den Kummer und die Sorgen anschwellen und wieder verfliegen. Ich weiß nicht, wie lange ich im Flur saß. Es kam mir sehr lang vor.
    Als ich endlich aufstand, versuchte ich, mich nicht in der Wohnung umzusehen. Alles erinnerte mich an Johanna und daran, dass ich nicht wusste, wo sie war.
    Ich zog mich aus und ging unter die Dusche, hantierte rasch und flüchtig. Shampoo, Duschgel, Rasur. Mit dem Rasierapparat in der Hand versuchte ich, bis zehn zu zählen, kam aber nur bis drei.
    Ich war nicht darauf vorbereitet, was ich in meinem Kleiderschrank finden würde. Als ich saubere Socken her­aussuchte, fiel mein Blick auf ein Päckchen in rotgoldenem Papier. Mein Weihnachtsgeschenk für Johanna. Ich nahm es heraus, legte es aufs Bett und betrachtete es. Ich stand davor, mit einer Socke bekleidet, und

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