Der heilige Erwin und die Liebe
fragt Er beleidigt.
Er selbst war schon früh am Morgen aus dem Haus geschlichen, damit Er den Brüdern nicht begegnen musste. Damit sie ihn nicht, wie am Tag zuvor, mit einem Schwall kalten Wassers aus dem Bett scheuchen konnten. Oder ihm beim Frühstück wieder Salz in die Cornflakes kippten. Oder eine der zahlreichen anderen kleinen Gemeinheiten machten, mit denen sie ihren Bruder offenbar täglich schikanierten. Etwas Gutes hatte es allerdings gehabt, dass Gott so früh auf der StraÃe war. So konnte Er nämlich beobachten, wie Erwin das Haus verlieà und eiligen Schrittes die StraÃe entlanglief. Gott war ihm gefolgt. Es wurde ein langer, einsamer Spaziergang, den die beiden machten. Ein paar Mal hätte Erwin ihn beinahe entdeckt, aber in letzter Sekunde war es Gott immer gelungen, Olli-Lollis Körper hinter einer Hausecke oder einem Baumstamm zu verstecken. Erwin kam ihm sehr traurig vor, und das hatte Gott ebenfalls traurig gestimmt.
All das erzählt Er nun seinem Sohn, während um sie herum das bunte Treiben auf dem Pausenhof weitergeht. »Nach zwei Stunden hat Erwin sich in ein Café gesetzt und dort vor sich hin gestiert«, sagt Gott. Er hatte noch eine Weile vor dem Café ausgeharrt und ab und zu durch das Fenster geschaut. Aber Erwin hatte nur dagesessen und in seiner Tasse gerührt. So war Gott schlieÃlich nach Hause gegangen, um Olli-Lollis Glieder aufzuwärmen. Wenn Er daran denkt, wie durchgefroren Er nach diesem Abenteuer war, schüttelt es ihn jetzt noch. »Verstehst du das?«, fragt Er seinen Sohn nun. »Warum macht er das? Warum bleibt er an einem Sonntagmorgen nicht zu Hause und frühstückt gemütlich mit Rita? Warum begleitet sie ihn nicht bei seinem Spaziergang? Was ist bloà los mit den beiden?!«
Jesus hat Erbses Unterlippe vorgeschoben und kaut darauf herum. »Tja, das kann viele Gründe haben«, sagt er unbestimmt. »Die Menschen sind kompliziert, das weiÃt du doch.«
Gott legt die Stirn in Falten. »Ist das etwa alles, was du dazu zu sagen hast?« Er hat gehofft, dass Jesus ihm mehr über das Innenleben der Menschen verraten könnte, über ihre Beweggründe. Wo er sich doch anscheinend so gut in sie hineinversetzen kann.
Jesus zuckt mit den Schultern. »Lass uns doch heute Nachmittag mal gemeinsam herausfinden, was da los ist!«, sagt er versöhnlich.
Gott reibt sich Olli-Lollis Hände. »Klaro! Wann wollen wir uns denn treffen?«
»Ach Mist«, stöÃt Jesus hervor und schlägt sich an Erbses Stirn, »tut mir leid, aber heute Nachmittag gehtâs nicht. Montags hat Erbse Reitunterricht!«
Gott verdreht die Augen gen Himmel. »Ist das dein Ernst?!«
Jesus hält den Blick starr auf Erbses FuÃspitze gerichtet, mit der er eine Acht auf dem Asphaltboden zieht. »Was soll ich denn machen?«, fragt er kleinlaut.
»Verdammt, so geht das nicht!«, donnert Gott los. »Wir vertrödeln unsere Zeit, während es bei Erwin und Rita immer weiter bergab geht! Wir können jetzt nicht jeden Tag hierherkommen!« Er macht eine ausholende Armbewegung, die den Schulhof und das Schulgebäude umfasst.
»Okay«, sagt Jesus vorsichtig, »Aber wie sollen wir das anstellen? Du kennst doch Erbses Eltern, die würden sofort mitkriegen, dass ich die Schule schwänze, und dann â¦Â«
Gott winkt unwirsch ab. »Pssst!«, zischt Er seinem Sohn zu. »Ich muss mich konzentrieren!«
Einen Augenblick später ertönt ein lauter Schrei auf dem Schulhof. Alle Kinder wenden sich einem Erstklässler zu, der eben dabei war, am FuÃe des Klettergerüstes in der feuchten Erde zu graben. Jetzt steht der Junge mit vor Aufregung roten Ohren da und hält Âeinen kleinen Gegenstand in die Höhe. »Guckt mal, was ich gefunden habe!«, ruft er durchdringend. »Und da gibtâs noch mehr!«
Schnell ist er von einem Pulk aufgeregter Kinder umringt.
Weitere Rufe werden laut: »Hier ist auch noch was!«, »Und hier!«
Gott und Jesus beobachten von ihrem Platz aus, wie dem Aufsicht führenden Lehrer vor Ãberraschung die Kinnlade runterklappt. Das Klingelzeichen, das zur Fortsetzung des Unterrichts ermahnt, interessiert niemanden. Schüler wie Lehrkräfte, die Rektorin und der Hausmeister scharen sich um den kleinen Jungen, der mit dreckverkrusteten Handschuhen eine römische Goldmünze nach der anderen aus dem Erdreich
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