Der heilige Erwin und die Liebe
Figuren und Lichterketten die Fassaden. Die göttliche Einheit schwebt als unsichtbare Wolke durch winterfeste Vorgärten, vorbei an parkenden Autos, auf deren Scheiben Eisblumen erblühen, über das kahle Geäst der Bäume am StraÃenrand hinweg. Keine Menschenseele ist unterwegs, nirgends. Na toll, denkt Gott, und wo sollen wir jetzt neue Gestalten herbekommen?
Jesus weist darauf hin, wie wichtig es sei, sich zu entspannen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Doch Gott ist es nicht gewöhnt, die Kontrolle abzugeben. Plötzlich sind Schritte auf dem Asphalt zu hören, und im nächsten Moment biegt jemand um die StraÃenecke. Der Mann, eingehüllt in einen schweren Mantel, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, bleibt kurz stehen, dann lässt er einen leisen Pfiff ertönen. Augenblicklich kommt ein dunkler Hund um die Ecke geschossen, der ihn beinahe umrennt.
»Schsch, Frido. Ganz ruhig!«, mahnt der Mann.
Das Tier wedelt mit dem Schwanz und setzt seinen Weg fort, wobei es mit der Nase am Boden mal hier, mal dorthin trottet, die Gartenzäune beschnuppert, die Reifen der parkenden Autos, die Stämme der Bäume am StraÃenrand, und alle paar Schritte das Hinterbein hebt, um seine Duftmarke zu hinterlassen. Plötzlich gewahren Vater und Sohn ein tiefes, kehliges Brummen. Das unheilvolle Geräusch geht von einer Katze aus, die in einem der Vorgärten im Baum hockt. Das weiÃe Fell aufgestellt, der Rücken zu einem steilen Bogen gekrümmt, der buschige Schwanz kerÂzen gerade, die Ohren angelegt. Das Brummen hat mittlerweile auch die Aufmerksamkeit des Hundes erregt. Mit zwei Sprüngen ist er am Zaun des Gartens angelangt und richtet sich darÂan auf â die Pfoten auf dem Geländer aufgestützt, den Kopf weit vor gestreckt, jeder Muskel im Körper angespannt. Ein Knurren entweicht dem Hund, was die Katze mit scharfem Fauchen erwidert. Im nächsten Augenblick setzt der Hund zu einem ohrenbetäubenden Gebell an. Der Hundehalter kommt hinzugelaufen und packt das Tier am Halsband, um es vom Zaun fortzuziehen. Mit seinen zunächst ruhig hervorgebrachten, dann zunehmend energischeren Befehlen kann er nichts ausrichten. Die beiden Tiere giften sich so hasserfüllt an, dass man meinen könnte, die Luft zwischen ihnen sei elektrisch aufgeladen. In dem Haus, zu dem der Vorgarten gehört, geht hinter einem der Fenster das Licht an. Der Vorhang wird zur Seite gerissen, und eine Frau im rosafarbenen Bademantel öffnet das Fenster. Auf dem Kopf trägt sie eine Vielzahl kleiner Lockenwickler, was lustig aussehen könnte, wenn ihr Blick dazu nicht so wütend wäre.
»Holen Sie gefälligst Ihren Hund zurück!«, schreit sie den Mann an, der noch immer vergeblich am Halsband des Tieres zerrt. »Oder ich rufe die Polizei!« Dann reckt sie ihre Arme in die Richtung der Katze, die vor Aufregung keinen Blick für sie übrig hat. »Komm, Marlene«, ruft die Frau lockend, »komm heim zu Mama!«
Der Hundebesitzer hat zwischenzeitlich eine Leine aus der Manteltasche gezogen und sie am Halsband seines Tieres befestigt. Vergeblich zerrt er daran, doch der Hund bewegt sich nicht von der Stelle. Wütend schimpft der Mann vor sich hin, auf den Hund, auf die Frau und die Katze, was jedoch im Krach der beiden Tiere untergeht.
»Hund und Katze«, sinniert Jesus, »schwarz und weiÃ. Das Männliche und das Weibliche, Yin und Yang ⦠Das ist es doch!«
»Du meinst, wir sollen die Tiere übernehmen?« Gott kann sich nicht vorstellen, was sein Sohn im Schilde führt.
»Aber ja!« Jesus ist voller Eifer. »Als Tiere haben wir viel mehr Spielraum, wir können Erwin und Rita Âbelauschen, ohne aufzufallen â und nicht zuletzt können wir uns so den Kindern nähern. Erbse liebt doch Tiere!«
Auch wenn Gott noch nicht ganz überzeugt ist, willigt Er ein. »Wir können es ja mal versuchen. Das ist immer noch besser, als hier untätig herumzuschweben!« Flugs teilt sich die göttliche Energie und fährt in die Tiere ein. Augenblicklich erstirbt der Lärm, der die StraÃe eben noch erfüllte. Jesus dreht sich um und springt leichtfüÃig vom Ast in die noch immer ausgestreckten Arme der Frau am Fenster, die ihn an sich schmiegt und ihm beruhigend zuredet. Gott lässt vom Gartenzaun ab. Der Druck, der auf dem Halsband liegt, reiÃt ihn nach hinten. Er zieht den
Weitere Kostenlose Bücher