Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der heilige Erwin und die Liebe

Der heilige Erwin und die Liebe

Titel: Der heilige Erwin und die Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasna Mittler
Vom Netzwerk:
landet. Noch ehe er den rechten Fuß im Steigbügel untergebracht hat, hat das Mädchen bereits Moritz’ Zügel gelöst. Jetzt führt Melanie das Tier aus dem Stall heraus, und die anderen Kinder folgen auf ihren Pferden. Draußen dämmert es, und die Luft ist deutlich kühler als im Stall. Obwohl ihn die ungewohnte Sitzhöhe verunsichert, jubiliert ­Jesus innerlich. Ich reite!, denkt er und strahlt vor Stolz , während er sich bemüht, die schaukelnden Bewegungen des Tieres durch eine Verlagerung von Erbses Körpergewicht auszugleichen. Er hält sich am Sattelknauf fest und reckt den Rücken, um die aufrechte Haltung der anderen Reiterinnen zu imitieren. Die Karawane zieht an einem umzäunten Auslauf vorbei. Auf der anderen Seite des Geländes steht eine große Halle, die sie durch ein weit geöffnetes Flügeltor betreten. Der Geruch nach Heu und Pferd ist überwältigend. Melanie führt die Tiere mit den Reitschülerinnen quer durch die Halle. Dann drückt sie Jesus die Zügel in die Hand und verschwindet. Der Hengst unter Erbses Hintern macht ein paar unruhige Schritte auf der Stelle. Plötzlich ist Jesus gar nicht mehr so enthusiastisch zumute. Die anderen Mädchen sitzen nach wie vor kerzengerade auf ihren Pferden, die Zügel fest in der Hand, und reden den Tieren leise zu. Manche tätscheln den Hals ihres Pferdes. Jesus probiert das ebenfalls, aber der Braune schüttelt unwirsch den Kopf, so dass er Erbses Hand erschrocken zurückzieht.
    In diesem Moment tritt eine Frau in die Mitte der Halle. Ohne Umschweife beginnt sie, Befehle zu erteilen. Im Schritttempo lassen die Schülerinnen ihre Tiere einen großen Kreis durch die Halle ziehen. Mit Erleichterung stellt Jesus fest, dass sein Hengst den anderen willig folgt. Als Nächstes reiten sie eine Bahn in der Form einer Acht. Auch das gelingt, und Jesus freut sich. Das müsste der Alte sehen!, denkt er voller Stolz und ärgert sich, dass sein Vater nicht dabei ist, um ihn bewundern zu können.
    Â»Und im Trab!«, ruft die Reitlehrerin jetzt mit dur chdringender Stimme und lässt ihre Peitsche knallen.
    Sofort fallen die Pferde in einen ruckeligen Laufschritt, so dass Jesus Schwierigkeiten bekommt, sich aufrecht zu halten. Er schlingt die Zügel fest um Erbses Hände, bis das Leder schmerzhaft in die Haut schnei det. Während der Hengst mit den anderen Pferden durch die Halle trabt, schlägt Jesus das Herz bis zum Hals. Immerhin gelingt es ihm, im Sattel zu bleiben – trotzdem hofft er inständig, dass die Reitstunde bald zum Ende kommt.

    Â»Uuuuund Galopp!«, bellt die Lehrerin ihren nächsten Befehl.
    Beim Geräusch der Peitsche treiben die anderen Mädchen ihre Pferde an, und Moritz fällt in eine ungestüme Laufart, die Jesus augenblicklich in Panik versetzt. Er versucht sich verzweifelt festzuhalten. Doch plötzlich rutscht er aus dem Sattel und hängt seitlich an dem dahinjagenden Tier, die Hände krampfhaft um die Zügel geklammert, die Füße in den Steigbügeln ve r­ heddert. »Hilfe!«, entfährt es ihm, was aber im Stampfen der Hufe untergeht. Er hat keinerlei Kontrolle über das kraftvolle Tier. Moritz galoppiert unbeirrt weiter, während Jesus fürchtet, jeden Augenblick den Halt zu verlieren.
    Wenn ich jetzt stürze, bricht sich Erbse das Genick!, denkt Jesus voller Schrecken. In seiner Angst sieht er nur einen, der ihm helfen kann: Erbse! Mit letzter Kraft erweckt er das Bewusstsein des Mädchens und verlässt im selben Augenblick den menschlichen Leib. Aus sicherer Entfernung, unsichtbar über dem Geschehen schwebend, beobachtet er, wie Erbse sich wieder nach oben in den Sattel zieht. Das Tier fällt in den Trab zurück. Erbse schert aus der Reihe der Reiterinnen aus und bringt den Hengst schließlich am Rande der Reitbahn zum Stehen.
    Jesus betrachtet das Schauspiel mit grenzenloser Bewunderung für das Mädchen. Wie konnte ich sie nur in so eine gefährliche Situation bringen?, fragt er sich vorwurfsvoll. Er will gar nicht daran denken, was alles hätte passieren können.
    Erbse lässt sich derweil aus dem Sattel gleiten und schaut sich verwundert um.
    Â»Was soll das, Erbse?«, ruft die Lehrerin streng.
    Das Mädchen macht ein paar unsichere Schritte, dann knickt es in den Knien ein und lässt sich auf den mit Holzspänen bedeckten Boden plumpsen. »Mir ist so

Weitere Kostenlose Bücher