Der Heilige Krieg
Gewissheiten der Vergangenheit schienen infrage gestellt zu sein. Dennoch reagierte das politische System Amerikas nicht blindwütig. Neben der Verwirrung stand – anfangs – auch Besonnenheit. Einer gewissen Verwirrung war wohl geschuldet, dass Präsident Bush am 16. September – vor seinem Diensthubschrauber stehend – in einer improvisierten Pressekonferenz in aller Eile ein Statement abgab: »Dies ist eine neue Variante des Bösen. Uns ist klar, dem amerikanischen Volk ist klar, dass dieser
Kreuzzug, äh, dieser Krieg gegen den Terror einige Zeit in Anspruch nehmen wird.« Der Begriff »Kreuzzug« taucht in offiziellen amerikanischen Stellungnahmen tatsächlich nur hier auf. Diese verhaspelten, improvisierten Sätze des rhetorisch ohnehin unsicheren George W. Bush als Aufruf zu einem »Kreuzzug« zu deuten, ist abwegig. Dennoch griffen manche arabische Kommentatoren und natürlich die Fanatiker dies begierig auf. In einigen Internetforen wurde seitdem die Mär von einem Kreuzzug des Westens gegen die islamische Welt verbreitet. Vergessen wird dagegen die offizielle Stellungnahme des Präsidenten vor der versammelten politischen Führungsschicht Amerikas. Vor dem US-Kongress sagte er am 20. September 2001: »Die Terroristen praktizieren eine marginale Form des islamischen Extremismus, die von muslimischen Gelehrten und der übergroßen Mehrheit muslimischer Kleriker abgelehnt wird. Dies ist eine randständige Bewegung, die die friedlichen Lehren des Islam pervertiert. « Der Krieg der Kulturen sollte – wenn es nach Amerikas politischer Klasse ginge – also nicht stattfinden. Wohl aber musste eine andere Art von Krieg geführt werden, denn Amerika brannte darauf, Vergeltung zu üben. Die Verantwortlichen für den 11. September saßen in Afghanistan. Und dort wollte die verwundete Supermacht nun zuschlagen.
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Präsident George W. Bush ringt am 16. September 2001 um Worte – und spricht leichtfertig von einem »Kreuzzug« gegen die Täter.
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Drahtzieher Bin Laden preist in einem Video die Tat der Terroristen und ruft alle Muslime auf, den Kampf fortzusetzen.
Die Jagd auf Bin Laden
»Da habt ihr Amerika an einem seiner schwächsten Punkte getroffen. Seine herrlichsten Gebäude wurden getroffen. Dafür danken wir Gott. … Diese Ereignisse haben die Welt gespalten.… Alle Muslime müssen herbeieilen, um ihrer Religion zum Sieg zu verhelfen. Der Sturm des Glaubens hat sich erhoben«, triumphierte Osama bin Laden in einer Videoaufzeichnung, die am 7. Oktober 2001 auf dem arabischen Sender Al Dschasira ausgestrahlt wurde. Mit den Realitäten hatte diese Deutung indes kaum etwas zu tun. Ebenso wenig wie Amerika einen Kreuzzug ausrief,
waren die Muslime der Welt bereit, dem Fanatiker Bin Laden in einen weltweiten Dschihad zu folgen. Überraschend war indes, dass Bin Laden, von manchen westlichen Kommentatoren inzwischen zum »Terrorfürsten« geadelt, nicht persönlich die Verantwortung für die Anschläge des 11. September übernahm. Diese Feinheiten aber waren den Amerikanern egal. Der Tag, an dem das Video ausgestrahlt wurde, war zufällig auch der Tag, an dem das US-Bombardement Afghanistans begann. Marschflugkörper zerstörten die bereits erkannten Al-Qaida-Camps, dann belegten B-52-Bomber die Regionen, in denen man die Drahtzieher vermutete, mit Bombenteppichen – so sollte eine Handvoll Terroristen in den unwegsamen Bergen Afghanistans aus ihren Höhlen getrieben werden. Hunderte von Al-Qaida-Getreuen wurden bei diesen Bombenangriffen getötet, darunter zahlreiche Führungspersonen. Amerika schickte im Herbst 2001 auch die Kämpfer der afghanischen Nordallianz, die sich mit dem Westen gegen die Taliban verbündet hatten, ins Gefecht. Sie sollten nun die Terroristen jagen. Zu einem Einsatz amerikanischer Bodentruppen konnte sich die US-Regierung nicht durchringen. Nur einige kleine CIA-Teams waren vor Ort, um Informationen über den Verbleib Bin Ladens zu sammeln und der Luftwaffe mit moderner Technik Zielkoordinaten durchzugeben. Eines dieser Teams wurde von dem CIA Field Commander Gary Berntsen geleitet. Und der glaubte Anfang Dezember, dass er Bin Laden in den Weißen Bergen von Tora Bora ganz dicht auf den Fersen war.
Ein Mitglied von Berntsens kleiner Truppe war ein Amerikaner libanesischer Herkunft – er durchsuchte am 5. Dezember eine Al-Qaida-Stellung, die kurz zuvor von US-Bomben umgepflügt worden war. Überall an dem von Kratern zernarbten Berghang lagen Tote. Eine der
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