Der heilige Schein
- den Medien im März 2010 vor, mit ihren Berichten über die Missbrauchsfälle eine Kampagne gegen die Kirche zu führen, ähnlich jener, die die Nationalsozialisten einst gegen die Katholiken geführt hätten. [65]
Hier zeigt sich wieder, dass man bei der Suche nach den Ursachen der gegenwärtigen Krise nicht auf sich selbst schaut, sondern mit aggressiven Äußerungen von den Problemen im Inneren ablenkt und sich auf die Suche nach externen Sünden bocken macht. Eine solche Strategie ist natürlich zunächst ein Ausdruck eigener Hilflosigkeit und Schwäche; warum man sich dabei in den letzten Jahren - neben den Medien - auf die Homosexuellen als Feindbild eingeschossen hat, ist psychologisch auf der Basis des bisher Ausgeführten gut erklärbar. Doch eine Bewältigung der gegenwärtigen Krise ist auf dem Weg der Abschottung und Vertuschung ganz sicher nicht möglich. Im Gegenteil, es ist ein Teufelskreis, in dem die Probleme sich wechselseitig noch verstärken.
Wir schrumpfen uns zur Sekte
Wenn die katholische Kirche sich aus dieser schweren Krise befreien will, muss sie eine Entscheidung treffen, die ihr weiteres Schicksal bestimmen wird. Dabei stehen ihr im Moment zwei Wege offen: Entweder sie macht weiter wie bisher und riskiert, sich immer weiter von den Menschen zu entfernen, oder sie bringt den Mut auf, sich zu öffnen und den Herausforderungen unserer heutigen Zeit zu stellen.
Der erste Weg wäre der, aus Angst vor dem schädigenden Einfluss der »Welt« den heiligen Schein um jeden Preis zu kultivieren. Diese Option ist geprägt von einer Wagenburg- oder Bunkermentalität, die auf einem äußerst pessimistischen Menschenbild und der Vorstellung einer verdorbenen, gottlosen und unmoralischen Zivilgesellschaft gründet. Vor diesen düsteren Hintergrund stellt man als Kontrast das eigene lichte Selbstbild: die Kirche nicht als Teil dieser Welt, sondern als deren rettender Antipode. Dann wird das geflügelte Wort von Kirchenvater Cyprian von Karthago, einem der Lieblingstheologen Benedikts XVI., zum Schlachtruf: »Außerhalb der Kirche kein Heil!« [66] Inmitten der Dunkelheit der Sünde und der Verderbnis ist sie die »Gemeinschaft der Heiligen«, soll sie als makellose Braut Jesu hell aufscheinen.
In der Öffentlichkeit wird der Schwerpunkt der Selbstdarstellung auf ritualisierten Vorgängen bestehen, die sich eng an eindrucksvolle, traditionsreiche Bräuche anlehnen. Man wird sehr viel Zeit zum Beispiel damit verbringen, genau festzulegen, welcher Geistliche ab welchem Rang welche Kopfbedeckung tragen darf oder wie lang die Brüsseler Spitze und die ornamentreiche Stola bei welcher Weihestufe zu halten sind. Im Gottesdienst wird man nicht mehr die lebendige Sprache der Menschen und ihrer Zeit sprechen, sondern sich in eine unwandelbare, weil tote Sprache, das Lateinische, flüchten. Man wird sich mit großer Symbolkraft beim Gottesdienst nicht den Gläubigen und der »Welt« zuwenden, sondern mit dem Rücken zu ihnen stehen.
Die Angst vor der übermächtigen, sündigen Welt führt zu Hilflosigkeit und zu Aggression. Und dann erklärt die sich in den Bastionen des heiligen Scheins verschanzende Kirche mit ihrem exklusiven Wahrheitsanspruch es zu ihrer Aufgabe, einen Kampf gegen die »Diktatur des Relativismus« zu führen. Da man in der modernen Welt einen mächtigen Gegner hat, sucht man sich exotische Verbündete, denen es ähnlich geht: Es kommt zum Schulterschluss mit Evangelikalen, Bibelfundamentalisten und extrem reaktionären Kräften innerhalb des Katholizismus. Noch intensiver als bisher wird man auf Gruppen wie das Opus Dei, die Pius- und die Petrusbruderschaft, die »Diener Jesu und Mariens« oder die TFP zurückgreifen, weil man in ihnen gutvernetzte und skrupellose Stoßtruppen der Kirchlichkeit sieht.
Seine ökumenischen Bestrebungen richtet man nicht mehr auf die nächstgrößere christliche Gruppe, die Protestanten, denen man immer wieder zu verstehen gibt, dass sie in Wirklichkeit nur eine Art große Sekte seien. Stattdessen orientiert man sich verstärkt in Richtung der orthodoxen Kirche, in deren Teilkirchen man Bundesgenossen für seinen Kampf gegen die Moderne zu finden glaubt.
Liberale Theologen müssen in einer stark römisch zentralisierten Kirche streng diszipliniert werden, denn sie rütteln am Grunddogma der Aufrechterhaltung des heiligen Scheins. Die durch Denunziationen und disziplinarische
Maßnahmen verbreitete Angst auf der einen Seite und das Karrierestreben der aus
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