Der heilige Schein
und recht zugegangen.«
Religiöse Eiferer, denen es an einem klugen Urteil fehlt, hohe Prälaten, die in der Entwicklung der heutigen Gesellschaft nur Unheil und Niedergang sehen ... wie prophetisch klingen diese Worte angesichts der neueren Entwicklung in der katholischen Kirche!
Johannes XXIII. fährt fort: »Wir aber sind völlig anderer Meinung als diese Unglückspropheten, die immer das Unheil Voraussagen, als ob die Welt vor dem Untergang stünde. In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse, durch welche die Menschheit in eine neue Ordnung einzutreten scheint, muss man viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen. Dieser verfolgt mit dem Ablauf der Zeiten, durch die Werke der Menschen und meist über ihre Erwartungen hinaus sein eigenes Ziel, und alles, auch die entgegengesetzten menschlichen Interessen, lenkt er weise zum Heil der Kirche.«
Der den Erzkonservativen eigene Pessimismus im Hinblick auf die Gesellschaft und den Menschen an sich ist hier gewendet in ein von der Freude des Evangeliums geprägtes Bild der Gegenwart, das einen optimistischen Blick in die Zukunft erlaubt. Selbst Papst Benedikt musste im Oktober 2008 in seiner Ansprache anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Papstwahl Johannes’ XXIII. einräumen, dass es Johannes mit dieser Einstellung gelang, »unerwartete Horizonte der Brüderlichkeit unter den Christen und des Dialogs mit allen Menschen zu öffnen«. [68]
Auf der Basis einer echten Hochschätzung der Men schen und ihrer Welt wird die Kirche begreifen, dass sie Teil dieser konkreten Gesellschaft ist, und sich nicht länger als oberlehrerhafter Antipode ihrer Zeit verstehen. Weil sie von den Menschen gehört werden will und weiß, dass sie eine wichtige Botschaft für sie hat, wird sie zuvor auf deren Nöte, Probleme und Sorgen hören. Sie wird sich ehrlich dafür interessieren, was für diese Menschen erfülltes Leben, was Glück für sie bedeutet. Auch wenn reaktionäre Kräfte darin einen Verrat am Glauben sehen, wird die Kirche damit nichts anderes tun, als sich treu zu bleiben, indem sie die Regeln befolgt, die sie sich selbst im Zweiten Vatikanischen Konzil gegeben hat. In einem der wichtigsten Texte des Konzils mit dem Titel »Gaudium et spes « (Freude und Hoffnung) heißt es programmatisch, die Kirche wisse sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte aufs Engste verbunden: »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen Widerhall fände.« [69]
Den Weg der mutigen Offenheit zu gehen heißt natürlich nicht, dass die Kirche sich dieser Welt und dieser Gesellschaft einfach kritiklos angleichen soll. Damit würde sie sich ebenso überflüssig machen wie mit den Strategien des ersten Weges. Es geht vielmehr um einen grundlegenden Perspektivenwechsel.
Maßstab des kirchlichen Handelns wird zuallererst das Evangelium sein, wobei die Bibel nicht allein für sich steht, sondern durch die Tradition als Interpretin ergänzt wird. Entscheidend ist dabei die Erkenntnis, dass Tradition keineswegs mit Traditionalismus gleichzusetzen ist. Wir haben gesehen, dass die Traditionalisten mit ihrem Traditionsbegriff im 19. Jahrhundert stehengeblieben sind: Hier wird eine aus Angst konservierte, tiefgefrorene und damit um ihr Wesentlichstes gebrachte, in der Liturgie ästhetisch aufgemöbelte Karikatur von Tradition kultiviert.
Tradition ist ein sehr lebendiger Vorgang, der bereits die Bibelentstehung prägte. Die historisch-kritische Auslegung der Heiligen Schrift hat uns gezeigt, dass vieles, was darin zu finden ist, schlicht die gesellschaftliche Wirklichkeit der damaligen Zeit widerspiegelt. Das sieht man sehr deutlich an den fünf Büchern Mose, in denen Regeln aufgestellt werden, die heute kaum mehr jemand als unverzichtbar bezeichnen wird: So ist es nach Levitikus 15,19 eine schwere Sünde, mit einer Frau Kontakt aufzunehmen, wenn sie sich im Zustand »menstrualer Unreinheit« befindet; einige Verse weiter wird die Sklaverei erlaubt, während das Essen von Schalentieren als schwere Sünde dargestellt wird; wer am Sabbat arbeitet, muss nach Exodus 35,2 mit dem Tod bestraft werden. Im selben Kontext finden sich auch die strengsten Verbote homosexueller Handlungen.
Will man nicht die Bibel nach dem Vorbild fundamentalistischer Sekten
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