Der heilige Schein
Welt der Bilder, der visuellen Reizflut, gewinnt die ritualisierte öffentliche Selbstdarstellung immer mehr an Bedeutung. Auch auf dem »Jahrmarkt der religiösen Angebote« stellt sie einen entscheidenden Wettbewerbsfaktor dar. Jeder Firmenchef weiß, dass das Corporate Design, das Erscheinungsbild seines Betriebs nach außen, eine wichtige Funktion hat. Es zeigt auf unverkennbare Weise: So wollen wir uns sehen und von euch gesehen werden, daran könnt ihr partizipieren! Das Corporate Design ist nicht nur ein bedeutender Werbefaktor, sondern fördert auch die Identifikation der Menschen mit ihrem Betrieb und bindet sie an ihn. Da der Wiedererkennungseffekt in diesem Zusammenhang unverzichtbar ist, ist das Corporate Design auf Beständigkeit, auf einen gewissen Konservativismus angewiesen.
So wie Adidas seine drei Streifen nicht von einem auf den anderen Tag aufgeben könnte, wäre die katholische Kirche schlecht beraten, wenn sie ihren heiligen Schein, wie er sich etwa in der Liturgie oder im öffentlichen Auftreten von Kirchenfürsten manifestiert, dauernder zeitgeistiger Kreativität überlassen würde. Dass man dies in der katholischen Kirche seit nahezu zweitausend Jahren weiß und sich danach richtet, spricht zunächst einmal für sie.
Auch der gegenwärtige Papst widmet der religiösen Außendarstellung seiner Institution große Aufmerksamkeit. Programmatisch sagt er dazu im Liturgie-Band seiner Gesammelten Schriften: »Im Umgang mit der Liturgie entscheidet sich das Geschick der Kirche.« [61] Auf unsere Thematik angewendet und in einen breiteren Kontext übertragen, könnte man ganz allgemein auch sagen: Im Umgang mit dem heiligen Schein entscheidet sich die Zukunft der Kirche. Denn in der Praxis zeigt sich, ob der äußere Schein der Realität entspricht oder ob er diese Entsprechung nur vortäuscht. Außenstehende bemerken mögliche Diskrepanzen nur punktuell, dafür aber häufig umso deutlicher. Insider erleben beides, Realität und Außendarstellung, permanent nebeneinander. Ein Abgleich findet dann nicht nur statt, wenn ein Geistlicher, in hohepriesterliche sonntägliche Gewänder gekleidet, ein lateinisches Hochamt zelebriert oder wenn der Papst den in alle Welt übertragenen Ostersegen »Urbi et Orbi« spendet, sondern in gewöhnlichen menschlichen Vollzügen. Entfernt das tatsächliche Sein sich dann zu weit vom heiligen Schein, verwandelt sich dieser in oberflächliche Scheinheiligkeit.
Mit diesem Phänomen des weiten Auseinanderklaffens von Sein und Schein hat die katholische Kirche nun seit geraumer Zeit zu kämpfen. Spätestens durch die Missbrauchsskandale ist die fromme Fassade, hinter der man sich jahrzehntelang zu verbergen suchte, endgültig brüchig geworden und damit die Glaubwürdigkeit der gesamten Institution Kirche schwer beschädigt. Matthias Drobinski bemerkte dazu in der Süddeutschen Zeitung vom 23. August 2010 treffend: »Diese Kirche steht nicht allein wegen der Missbrauchsfälle derart in der öffentlichen Kritik. Es werden nicht allein deswegen dieses Jahr 200 000, vielleicht sogar mehr als 300 000 Menschen aus der Kirche austreten. Die Leute treten nicht aus, weil Kirchenmitarbeiter Verbrechen begangen haben. Sie gehen, weil ihnen die gesamte Institution unglaubwürdig geworden ist und der Skandal den letzten Anstoß zum Austritt gegeben hat.«
Nun hat die Brüchigkeit der Fassade nicht zu einem Umdenken bei den verantwortlichen Kirchenmännern geführt, sondern sie versuchen im Gegenteil nur umso energischer, den Schein zu wahren. Dass man in dieser Situation reaktionären Gruppen innerhalb der katholischen Kirche, vom Opus Dei bis zur Piusbruderschaft, immer mehr Einfluss zugesteht, ja sich von ihnen eine Lösung der gegenwärtigen Krise erhofft, ist kein Zufall: Wir haben gesehen, dass die Strategie des Verschweigens und gnadenlosen Verurteilens dort in besonders ausgeprägter Form verfolgt wird.
Eine Kirche im Teufelskreis
Dem kirchlichen Umgang mit dem Phänomen der Homosexualität kommt im Hinblick auf die Diskrepanz zwischen Sein und Schein eine zentrale Bedeutung zu, denn hier werden die Mechanismen, die durch die unbedingte Scheinwahrung in Gang gesetzt werden, besonders deutlich.
Auf der einen Seite ist der Kirchenführung sehr wohl bekannt, dass ein verhältnismäßig großer Anteil katholischer Kleriker und Priesteramtsanwärter in Europa und den Vereinigten Staaten homosexuell veranlagt ist. Dieser Realität wird aber nicht dadurch begegnet, dass man offen
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