Der heilige Schein
für all jene, die der Kirche kritisch gegenüberstehen, immer mehr einzuschränken versuchen, während man sie für sich selbst natürlich weiterhin in Anspruch nimmt. Man geht gegen die Anti-Aids-Kampagnen in Afrika vor, kämpft gegen die Gleichberechtigung von Homosexuellen und Frauen, gegen Sexualaufklärung in den Schulen, gegen »blasphemische« und »unsittliche« Kunstwerke in Museen, gegen die Legalisierung von Sterbehilfe und Abtreibung. Zugleich plädiert man zum Schutze des Gemeinwohls für eine Wiedereinführung der Todesstrafe oder für Umerziehungskliniken für Homosexuelle. Dadurch entstehen aufschlussreiche Allianzen, zum Beispiel versteht der Vatikan dann weltweit geächtete Regierungen wie die des Iran als seine wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die »Diktatur des Relativismus«.
Sieht man von der Unterstützung solcher Staaten und einigen punktuellen Erfolgen ab, die der katholischen Kirche kaum eine nennenswerte Anzahl neuer Mitglieder zuführen werden, manövriert sich die Kirche auf ihrem Weg der Angst zunehmend ins Abseits, besonders in Europa, das dem gegenwärtigen Papst so viel bedeutet. Die Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche wird auch in Deutschland spürbar eingeschränkt: Das zwischen Hitlerdeutschland und dem Vatikan einst geschlossene Konkordat wird unter solchen Umständen kaum aufrechtzuerhalten sein. In der Folge werden die Privilegien für katholische Kleriker, die Kirchensteuer, der Religionsunterricht an staatlichen Schulen, die theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten und dergleichen abgeschafft. Dadurch verschwindet die katholische Kirche auch, optisch zunehmend aus der Gesellschaft; am deutlichsten zeigt sich das schon heute am Notverkauf von Gotteshäusern, die zu Konzerthallen, Büros oder Banken umgebaut werden. Die praktizierenden Katholiken werden zu einer überschaubaren Gruppe zusammenschrumpfen, was von den Verantwortlichen entweder als »Gesundschrumpfen« schöngeredet oder über die Viktimisierungsstrategie erklärt werden wird. Wir sind die letzten Treugebliebenen, wird es dann heißen, alle anderen sind Opfer des kirchenfeindlichen Klimas geworden und haben sich der »bösen Welt« angepasst. Beide Erklärungsmuster leisten einer weiteren Radikalisierung und damit einer verschärften Isolation Vorschub, die wiederum die Bunkermentalität verstärkt.
Am Ende führt dieser Teufelskreis dazu, dass sich nicht die zurzeit vielumworbenen traditionalistischen Gruppen wieder in die Kirche integriert haben, sondern umgekehrt die Kirche zu einer traditionalistischen Sekte nach dem Vorbild der Piusbruderschaft geworden ist.
Der Weg der mutigen Offenheit
Trotz der vielen Signale, die in den letzten Jahren von Rom und einigen Diözesen ausgegangen sind und die den Eindruck erwecken, als habe sich die katholische Kirche bereits heillos in dem skizzierten Teufelskreis verfangen gibt es durchaus noch die Option eines Auswegs. Als Alternative bietet sich vor allem mehr Offenheit an, außerdem sollte man sich endlich von den fatalen Mechanismen des heiligen Scheins verabschieden.
Um diese Richtung einzuschlagen, muss man sich zunächst von der seit der Französischen Revolution in der katholischen Kirche üblichen Entgegensetzung von guter Kirche und böser Welt loslösen. Diese Einsicht ist nicht revolutionär, nur leider bei den meisten Kirchenfürsten in Vergessenheit geraten. Dabei war es einer der bedeutendsten Päpste des 20. Jahrhunderts, Papst Johannes XXIII., der der Kirche in seiner Rede zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils im Jahr 1962 diese Einsicht ins Stammbuch schrieb. Vermutlich kommen uns die Worte des Papstes heute noch aktueller vor als den damaligen Zuhörern:
»In der täglichen Ausübung Unseres apostolischen Hirtenamtes geschieht es oft, dass bisweilen Stimmen solcher Personen unser Ohr betrüben, die zwar von religiösem Eifer brennen, aber nicht genügend Sinn für die rechte Beurteilung der Dinge noch ein kluges Urteil walten lassen. Sie meinen nämlich, in den heutigen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft nur Untergang und Unheil zu erkennen. Sie reden unablässig davon, dass unsere Zeit im Vergleich zur Vergangenheit dauernd zum Schlechteren abgeglitten sei. Sie benehmen sich so, als hätten sie nichts aus der Geschichte gelernt, die eine Lehrmeisterin des Lebens ist, und als sei in den Zeiten früherer Konzilien , was die christliche Lehre, die Sitten und die Freiheit der Kirche betrifft, alles sauber
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