Der heimliche Rebell
ganzes Leben lang nie anders als in den Kategorien seiner Tests und Reaktionsmessungen gedacht hatte. Und derweil kam die Lösung der praktischen Probleme nicht voran. Er mußte eine Entscheidung treffen, und zwar ohne Malpartos Hilfe. Ja, sogar ohne jegliche Hilfe. Er war wieder an dem Punkt angelangt, wo er auch schon gewesen war, als Gretchen ihm den zusammengefalteten Zettel gegeben hatte.
Er griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer seines Apartments.
„Ja, bitte?“ ertönte Janets angstvolle Stimme.
„Hier spricht die Leichenhallen-Liga“, sagte Allen. „Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihr Gatte auf Nimmerwiedersehen in den Verteiler eines Autofac-Schiffes gesaugt worden ist.“ Er blickte auf seine Uhr. „Um genau fünf Uhr fünfzehn.“
Entsetzliche, atemlose Stille. Dann sagte Janet: „Aber das ist jetzt.“
„Falls Sie genau hinhören“, sagte Allen, „können Sie ihn noch röcheln hören. Er ist noch nicht ganz hinüber, aber viel fehlt jedenfalls nicht mehr.“
Janet sagte: „Du unmenschliches Monster.“
„Was ich eigentlich herausfinden wollte“, meinte Allen, „ist, was wir heute abend vorhaben.“
„Ich gehe mit Lenas Kindern ins Geschichtsmuseum.“ Lena war die verheiratete Schwester seiner Frau. „Und du hast bisher noch nichts vor.“
„Ich werde wohl mal mitzotteln“, entschied er. „Ich möchte etwas mit dir besprechen.“
„Was besprechen?“ fragte sie sofort.
„Denselben Scheiß noch mal.“ Das Geschichtsmuseum würde dafür so gut geeignet sein wie kaum ein anderer Ort; es wurden immer so viele Besucher hindurchgeschleust, daß kaum die Gefahr bestand, von einem Pimpf entdeckt und aus der Menge herausgepickt zu werden. „Ich bin so gegen sechs daheim. Was gibt’s zum Abendessen?“
„Wie wär’s mit ,Steak’?“
„Fein“, sagte er und legte auf.
Nach dem Abendessen gingen sie hinüber zu Lena und holten die beiden Kinder ab. Ned war acht und Pat sieben, und sie wuselten aufgeregt die dämmrige Allee entlang und die Stufen zum Museum hoch. Allen und seine Frau kamen langsamer nach, Hand in Hand. Sie sprachen nicht viel. Ausnahmsweise war der Abend angenehm. Der Himmel war mit Wolken gesprenkelt, aber freundlich, und viele Leute waren draußen unterwegs, um den wenigen Vergnügungen nachzugehen, die ihnen zugestanden wurden.
„Museen“, sagte Allen. „Und Kunstausstellungen. Und Konzerte. Und Vorträge. Und Podiumsdiskussionen über öffentliche Belange.“ Er dachte daran, wie Gates’ Grammophon I can’t get started spielte, an das Aroma von Sherry und vor allen Dingen an die sperrigen Überreste des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich auf wundersame Weise in dem wasserdurchtränkten Exemplar des Ulysses konzentriert hatten. „Und immer spielen wir Jonglieren… “
Versonnen hängte Janet sich bei ihm ein. „Manchmal“, meinte sie, „wünsche ich mir, ich wäre wieder ein Kind. Schau nur, wie sie laufen.“ Die Geschwister waren im Museum verschwunden. Auf sie übten die Ausstellungen noch einen Reiz aus; sie waren der ausgeklügelten Arrangements noch nicht müde.
„Eines Tages“, sagte Allen, „würde ich gerne mit dir irgendwo hinfahren, wo man sich entspannen kann.“ Er fragte sich, wo das wohl sein mochte. Gewiß kein Ort im System der MoRes. Draußen auf einem abgelegenen Kolonialplaneten vielleicht, wenn sie erst einmal alt geworden und ausrangiert worden waren. „Noch einmal seine Kindertage erleben. Wo du die Schuhe ausziehen und mit den Zehen wackeln kannst.“ So, wie er sie kennengelernt hatte: ein scheues, schmächtiges, sehr hübsches Mädchen, das mit seiner kontraktlosen Familie auf dem idyllischen Planeten Beteigeuze 4 lebte.
„Können wir nicht mal einen Ausflug machen?“ fragte Janet. „Egal wohin… vielleicht zu einem Ort, wo es offenes Land gibt und Flüsse…“ Sie unterbrach sich. „Und Gras.“
Die Nabe des Museums bildete das Tableau Das 20. Jahrhundert. Ein ganzes weißverputztes Haus war sorgfältig rekonstruiert worden, mit Bürgersteig und Vorgarten, Garage und geparktem Ford. Das Haus war vollständig, mit Möbeln, lebensgroßen Robotpuppen, dampfendem Essen auf dem Tisch, parfümiertem Wasser in der Kachelbadewanne. Es ging, sprach, sang und glühte rosig vor Leben. Das Tableau rotierte ständig, derart, daß jeder Teil des Interieurs sichtbar wurde. Besucher reihten sich entlang des kreisförmigen Geländers auf und schauten zu, wie sich das Leben im Zeitalter der
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