Der heiße Himmel um Mitternacht: Roman (German Edition)
Hang. Überall sah er Schlingpflanzen, Kriechgewächse, riesenhafte Farne, gigantische unbekannte Sträucher mit mächtigen schimmernden Blättern und großen fleischigen vulgärbunten Blüten. Es war ein Garten, der Amok lief, ein magischer Irrgarten ja, aber einer, bei dem der Zauber, der ihn hervorgerufen hatte, von der dunklen, üblen Art war. Der Regen strömte ohne Ende nieder, und die Pflanzen wogten unter ihm und murmelten, reckten sich, dehnten sich von Augenblick zu Augenblick weiter aus, hoben sich, strafften sich und breiteten ihre Arme aus.
»Gehn wir doch raus und laufen ein bisschen«, sagte er zu Rhodes. Und sie traten aus den versiegelten Fenstern und schwebten schwerelos in die feuchtgrüne Welt hinaus.
Und diese Welt leuchtete. Gespenstische Elmsfeuer brannten darin, ein allgegenwärtiges zuckendes Glühen. Die Luft war dick, feucht, kränklich-süß. Alles schien wie von einem Pelz bedeckt. Nein, kein Pelz, irgendein Pilzgewächs, eine dichte, feuchte Schimmelschicht. Aus prallen Organen brachen periodisch pulsierend dunkle Sporenwolken hervor, die nach Spalten und Nischen suchten, um sich festzusetzen, und die sie rasch fanden. Man sah nirgendwo scharfe Kanten oder glatte Flächen: Alles war überwuchert. Die riesenhaften mächtigen Bäume sahen aus wie bartbewachsene Riesenknollen. Überall seltsame Knollen und Wuchergeschwülste.
Der Mond schimmerte blässlich durch die Dunstschwaden. Sein pockennarbiges Gesicht war von gezacktem, wildem Bambusgezweig bedeckt. Daraus tropfte grünes Blut über den Himmel.
Gestalten bewegten sich in dem Dunst – Trolle, fremdartige knochenlose ungestalte Wesen mit Tentakeln, monströs unvertraut, als stammten sie von einem anderen Stern; doch während Carpenter sich ihnen näherte, erkannte er Gesichter, Augen, und er sah, wie menschlich sie waren. Die starrenden, von Entsetzen erfüllten Augen, die angstvoll weit aufgerissenen Münder. Und die schuppige Haut, die glitschigen Glieder, die schwabbeligen Puddingleiber, diese fremdartigen Gestaltungen um den in ihrem Innern immer noch erkennbaren Humankern. Auch mit ihnen war in dieser Nacht eine magische Verwandlung erfolgt.
Nick Rhodes schien sie alle zu kennen. Er begrüßte sie, wie man Nachbarn begrüßt, Freunde. Stellte ihnen Carpenter mit lustigem Tentakelschwenken vor.
»Das ist mein Freund Paul«, sagte er. »Mein ältester und liebster Freund.«
»Nett, dich kennenzulernen«, sagten sie und zogen weiter durch den Dunst, den grünen Regen, den Wald der Zottelbäume, die Wolken pelziger Sporen, die die Luft erfüllten.
Von jedem Gebäude baumelten Girlanden von seildicken Schlinggewächsen. Unter dem zimtfarbenen Himmel wucherte mörderisch ungehemmtes pflanzliches Leben. Hinter den Peitschenschnüren, den Streberanken und Seilen der sich ausbreitenden Wuchergewächse konnte Carpenter undeutlich die Umrisse der Ruinen der früheren Welt erahnen: flechtenüberwucherte Pyramiden, zertrümmerte Kathedralen, Marmorstelen, mit unleserlichen Hieroglyphen bedeckt, umgestürzte zertrümmerte Statuen von Göttern und Herrschern. An einem in grünes Blut getauchten Altar fand eine Opferung statt, eine Menge tentakelbestückter Wesen scharte sich feierlich um einen ihresgleichen, der mit pelzigen dicken Stricken auf einen Steinquader gebunden war. Ein stumpfpelziges Messer hob sich und stieß nieder. Carpenter hörte einen fernen Gesang – nein, eigentlich war es eine Litanei – auf einer einzelnen Note. »Oh-oh-oh-oh-oh …«, wie ein leiser verschwommener und weit entfernter Schrei voll unaussprechlicher Qual.
»Wie lang geht das schon so?«, fragte er Rhodes. Doch der zuckte nur die Achseln, als sei eine solche Frage sinnlos.
Carpenter starrte fasziniert hin. Die ihm bekannte, vertraute Welt war für immer dahin. Die. Erde der Menschen lag im Todeskampf – oder war bereits tot. Die lange Geschichte des Menschen war nun zu Ende: Jetzt kam die Zeit der Pilze und schleimigen Schimmelwucherungen, der Lianen und Bambusgewächse. Der Dschungel würde alles vom Menschen Geschaffene überwachsen und verschlingen. Der Mensch selbst würde in diesem Dschungel verschwinden, zu einer Horde gehetzter, ständig auf Jagd befindlicher Wesen reduziert sein, die auf der Flucht wären vor diesen zugreifenden sich vorwärtsschlingenden Wucherranken, sich erbärmliche kleine Überlebensnischen zu ergattern versuchen in dieser wilden wütenden Wachstumswelt der neuen Schöpfung. Doch es würde nirgends Sicherheit geben
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