Der Herodes-Killer
in Rosens Innerem setzte sich das Bild von Father Sebastian Flint fest, dessen Augen den Zeilen folgten und dessen Hände die Seiten wendeten, der aber ansonsten wie eine Wachspuppe in einer schicken Bibliothek wirkte.
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31
Oberflächlich gesehen schien in der Brantwood Road alles wieder wie immer zu sein. Aber als Rosen durch den Vorgarten zum Haus ging, überfielen ihn die Bilder der im Uferschlamm der Themse liegenden Julia Caton. Das Baby war aus ihrem Leib geschnitten und durch einen Stein ersetzt worden – die gewaltsame Aufhebung der natürlichen Ordnung. Unwillkürlich musste er an seine Frau Sarah denken, an ihren Mutterleib. Die Ärzte hatten sie nach den Schwierigkeiten ihrer Schwangerschaft als unfruchtbar eingestuft, doch nun erblühte in ihr plötzlich ihr gemeinsames Kind. Fast überstieg es sein Vorstellungsvermögen.
Als er die Klingel drückte, versuchte er, Julias Bild durch den Gedanken an den schwitzenden Father Sebastian in seiner Mönchszelle zu ersetzen; er rief ihn sich in der Klosterküche vor Augen, wie er angesichts der Möglichkeiten des Internets gestaunt hatte, und sah ihn in der British Library in seine Studien versenkt vor sich.
Die Tür des Hauses ging langsam auf.
Vor ihm stand eine Frau in mittleren Jahren. An ihr war unschwer zu erkennen, wie Julia einmal hätte aussehen sollen. «Ja?»
«Ich bin Detective Chief Inspector David Rosen.»
«Ja, ich weiß, der Beamte vom Hilfsdienst für Verbrechensopfer war schon da. Sie haben die Leiche meiner Tochter gefunden.» Sie presste die Augen zusammen, als versuchte sie, die Welt auszusperren, und hielt sich mit der einen Hand am Türrahmen fest. Die Knöchel der Finger waren weiß. Für Rosen sah es so aus, als wäre die Tür alles, was zwischen ihr und dem vollständigen Zusammenbruch stand.
«Ja.»
«Wie kann ich Ihnen helfen?»
«Ich wollte Ihnen mein Beileid aussprechen.»
«Dann kommen Sie herein.»
Auf der Armlehne des Sofas im vorderen Raum saß ein hochgewachsener, kahlköpfiger Mann. Er saß zusammengesunken mit gesenktem Kopf da und starrte ein Foto in seiner Hand an. Er weinte nicht, aber er sah so aus, als hätte er nach vielen Stunden gerade erst damit aufgehört. Sein Gesicht war rot, und seine Nase glänzte feucht.
«Dan, das ist David Rosen, er ist Polizeibeamter.»
Rosen war dankbar, dass keiner ihn zum Sitzen aufforderte, und er fragte sich, wo Phillip Caton war.
«War sie irgendwie bekleidet?», fragte Julias Vater unvermittelt.
«Nein.»
«Ist es dasselbe wie mit den anderen Frauen?»
«Leider ja.»
Er streckte Rosen die Hand hin und sagte: «Hier.»
Rosen nahm das Bild entgegen. Es war ein Ultraschallfoto von Julias Baby.
«Unser erstes Enkelkind.»
«Und unser letztes», fügte Julias Mutter hinzu. «Julia war ein Einzelkind.»
Als Rosen das Foto betrachtete, fühlte er die Last seiner eigenen Trauer um Hannah wiederkehren. Er erinnerte sich an den unwiderstehlichen Drang, zu schreien und nie wieder damit aufzuhören. Und er erkannte die Leere in den Augen von Julias Eltern. Er reichte Julias Mutter das Foto zurück.
«Sind Sie seiner Ergreifung nähergekommen?», fragte ihr Vater.
«Es hat einige bedeutsame Entwicklungen gegeben …»
«Ja, aber sind Sie näher daran, diese … diese Kreatur zu fassen?»
«Wir wissen mehr als vor vier Tagen. Wir haben kriminaltechnisches Beweismaterial. Wir haben eine klarere Vorstellung vom Modus Operandi des Mörders. Es geht voran.»
«Aber wissen Sie, wer es getan hat?» Im Bruchteil einer Sekunde schaltete Julia Catons Vater vom ersten in den vierten Gang. Seine Stimme wurde laut vor Zorn. «Und sind Sie dabei, das verdammte Schwein festzunehmen und anzuklagen?»
«Okay, Dan, bitte schrei nicht –»
«Nein», antwortete Rosen. «Das sind wir nicht.»
Es entstand ein Schweigen, tief und hässlich.
Julias Vater stand auf und blickte Rosen direkt an. So schnell, wie sein Zorn angeschwollen war, schrumpfte er zusammen. Seine Stimme war kalt.
«Was machen Sie dann hier? Verschwinden Sie, machen Sie einfach, dass Sie wegkommen.»
An der Haustür drehte Rosen sich noch einmal zu Julias Mutter in der Diele um.
«Es tut mir sehr leid», sagte Rosen. «Wir tun, was wir können.»
Julias Mutter erwiderte nichts.
«Soll ich Ihnen die Kontaktdaten des Hilfsdienstes für Verbrechensopfer geben?»
«Nein, danke.»
«Wenn wir irgendetwas tun können …»
«Fassen Sie den Menschen, der ihr, der uns das angetan hat.»
«Ist
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