Der Herr Der Drachen: Roman
waren, dann begleitete er sie schweigend zu ihrer Unterkunft.
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S haan rannte blindlings davon und folgte dem gewundenen Pfad. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf: Balkis und sein warmer Atem auf ihrem Gesicht; die brennende Stadt aus ihren Träumen; Petar, der in einer Lache seines eigenen Blutes lag; und ein Mann mit indigoblauen Augen, der ihren Blick suchte.
Schwester hatte er sie genannt. Das war nicht möglich. Aber sie konnte ihn spüren; er war noch immer da und eine bleibende Gewissheit. Als sie ihn angesehen hatte, war es gewesen, als habe ein Funke eine Flamme in ihrem Innern entzündet. Sie blieb stehen, rang keuchend nach Atem und sah hinauf zur Drachenkuppel. Wie war sie hierhergekommen? Die Kuppel hob sich als dunkler Schatten vom strahlenden Blau des Himmels ab, und einige wenige Drachen kreisten hoch darüber. Shaan erbebte, als ein schriller Schrei zu ihr herabwehte, und wie als Antwort regte sich irgendetwas tief in ihr und zerrte an ihr.
Du bist meine Schwester . Die Worte hallten in ihrem Kopf, und sie starrte zu den Drachen hinauf, die über der Stadt ihre Runden zogen. War sie das wirklich? Aber wenn ja, wer war dann er? Nuathins Worte kamen ihr in den Sinn: Ist er hier? Ist er zurück ? Trotz der Wärme des Tages hatte sie eine Gänsehaut auf den Armen, und sie verfolgte mit den Augen die unablässigen Kreise und Drehungen eines dunklen Drachen vor den Wolken. Könnte es der Drache wissen? Könnte Nuathin es ihr erklären? Er schien alles zu wissen. Arak-si .
Sie drehte sich um und sah zum dunklen Eingang der Drachenkuppel. Wohin sonst sollte sie gehen? Ohne stehen zu bleiben, um weiter nachzudenken, rannte sie hinein.
Im Innern war es viel dämmriger, und Shaan lief die Wendelrampe hinauf, noch immer halb blind von der gleißenden Sonne. Ihre Beinmuskeln schmerzten während des Aufstiegs, und ihre Arme fühlten sich wie schlaffe Weinreben an, aber sie holte tief Luft und kämpfte gegen die Erschöpfung an.
Nuathin war in seiner Box. Er schlief in der Nähe seines Simses, den langen Schwanz um seinen Körper geschlungen. Sein Halskamm glühte in einem tiefen Aquamarinblau. Die Farbe verblasste und wurde wieder leuchtend, während er durch die Nüstern einund ausatmete, und die Luft war heiß wie Feuer. Shaan huschte leise zu ihm hinein, und das Blut rann schneller durch ihre Adern. Stroh raschelte unter ihren Füßen, und unter einem geöffneten Lid sah ihr ein großes, bernsteinfarbenes Auge entgegen.
Shaans Herz hämmerte. Langsam, langsam, trat sie noch einen Schritt näher. Nun öffnete sich auch das andere Auge des Drachen. Es war von einem dunklen Blau. Diese Farbe hatte es vorher nicht gehabt. Der Drang, davonzulaufen, war überwältigend, aber Shaan zwang sich dazu, reglos stehen zu bleiben. Flach atmend zögerte sie, unsicher, was sie tun sollte. Dann schob sie einen Fuß nach vorne.
Warte , flüsterte eine Stimme in ihren Gedanken. Nuathin hob langsam seinen Kopf vom Boden. Shaan konnte alte Erde riechen, als der Drache schnaubte, und heiße Luft fuhr über sie hinweg, die den Geruch von verbranntem Holz und Öl mit sich trug.
Wer bist du?
Nuathin ? Sie dachte seinen Namen, während sie ihm in die Augen sah. Er starrte sie an und bewegte sich nicht. Hatte er sie gehört? Sie rückte noch näher an ihn heran - gefährlich nah, denn nun befand sie sich in Reichweite seiner riesigen Vorderklauen. Mit einem Streich könnte er ihr die Eingeweide herrausreißen, aber noch immer verharrte der Drache regungslos. Shaan starrte in sein blaues Auge, und während sie in ihm zu versinken schien, wurde der dunkle Fleck seiner Pupille größer und größer. Oder kam sie selbst immer näher?
Ein seltsames Gefühl der Lethargie überfiel sie. Sie konnte ihren
Blick nicht abwenden. Der Drache atmete aus, und glühende Luft wehte ihr entgegen. Nuathin ? Sie starrte zu ihm empor. Irgendetwas tief in seinem Auge flackerte, und sie hörte ein Flüstern, schwach wie ein Luftzug. Arak-si , zischte er, und die Dunkelheit seines Auges umfing und verschluckte Shaan.
Die Welt war verschwunden. Ihr Geist war aus ihrem Körper gerissen worden, als sie in einen wirbelnden Malstrom von Farben geworfen wurde. Leuchtendes Blau und Lila peitschten an ihr vorbei, dann alle Arten von Grüntönen. Sie fiel und fiel. Verzweifelt schrie sie den Namen des Drachen, aber ein betäubender Wind toste in ihren Ohren, und sie konnte nichts hören.
Nuathin ! Sie kreischte, und mit einem Mal waren die
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