Der Herr Der Drachen: Roman
sehr zeitig eine Botschaft geschickt«, fuhr Meelin fort. »Die Nachricht war ganz kurz. Tuon sagte, wenn ich dich auf der Straße sehen sollte, müsste ich dich sofort in den Laden schaffen.«
»Hat sie geschrieben, warum?«
»Nein.« Meelin schüttelte den Kopf. »Aber du kannst sie selbst fragen, sobald sie hier ist. Und nun …«, sie ging zu der Tür hinter dem Tresen, »komm mit und warte hier drinnen.«
Sie holte einen Schlüsselbund unter einem Regal hervor und entriegelte die Tür. Shaan folgte ihr in einen schmalen Raum, der sich über die ganze Hinterseite des Ladens zog. Auf einem langen Tisch lagen die Utensilien, die Meelin für ihre Arbeit brauchte, in buntem Durcheinander verstreut und nahmen die Hälfte des Platzes ein. An einer Ecke des Tisches stand ein Behälter mit Parfüm und köchelte und blubberte leise vor sich hin.
»Setz dich.« Meelin zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. »Ich werde eine Botin zu Tuon schicken.«
Shaan blieb nichts anderes übrig, als Platz zu nehmen. Meelin öffnete die Hintertür und pfiff einmal leise und tief. Ein kleines Mädchen in schäbiger Kleidung erschien aus dem Schatten einer Seitengasse, lauschte angestrengt dem, was Meelin ihr zuflüsterte, und rannte dann davon.
»Sie wird nicht lange brauchen.« Meelin kam zurück und setzte sich neben Shaan. Sie öffnete einen Sack voller weißer Blüten und begann damit, die Blütenblätter abzuzupfen und sie sorgfältig in eine Schüssel zu legen. »Hier, du kannst mir helfen, während wir warten.« Damit schob sie den Sack in Shaans Reichweite.
Shaan zögerte. Dann ahmte sie mit steifen Fingern die Bewegungen der Parfümherstellerin nach und riss ein Blütenblatt nach dem anderen ab. Der süße, krautartige Duft stieg ihr in die Nase, und sie konnte kaum noch denken. Hatten die Glaubenstreuen herausgefunden, dass sie beim Traumseher gewesen war, als dieser starb? Und würden sie dann nicht auch nach Tuon suchen? Oder war Kommandant Rorc es leid, darauf zu warten, dass sie zu ihm käme, und hatte stattdessen nach ihr geschickt? Verzweiflung stieg in ihr auf. Wo konnte sie sich vor den Glaubenstreuen verbergen? Ängstlich saß sie dort, zupfte Blütenblätter und wartete auf Tuon.
Sie waren mit dem Sack beinahe fertig, als Tuon leise durch die Hintertür hereinschlüpfte. Ihr Gesicht war unter Schwaden von Seide in grüner Farbe verborgen.
»Tuon!« Shaan ließ die Blüte, die sie gerade in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch fallen und eilte zu der Freundin. »Was ist passiert? Was …«
»Schscht. Du musst leise sprechen!«, zischte Tuon und zog sich den Stoff vom Kopf. »Ich habe keinen Jäger hinter mir gesehen, aber das bedeutet nicht, dass sich da draußen nicht einer herumtreibt.«
»Warum suchen sie denn nach mir?« Shaan dämpfte ihre Stimme. »Ist es wegen …« Sie beendete ihren Satz nicht, denn Tuon warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Ich weiß es nicht«, sagte Tuon. »Alles, was ich weiß, ist, dass ich heute Morgen Rorc getroffen habe, und dass er mich nach dir gefragt hat und wissen wollte, wo du steckst. Ich weiß nicht warum, aber er braucht dich für irgendetwas. Er sagt, du seiest wichtig.«
»Wofür?« Shaan starrte sie an, aber Tuon schüttelte den Kopf, und ihr Gesicht war ratlos.
»Ich weiß es nicht. Aber er hat mir auch verraten, dass die Führerin vergiftet wurde und nun zwischen Leben und Tod schwebt.«
»Die Führerin?« Shaan starrte sie an.
»Das ist ein schlechtes Omen«, sagte Meelin, und sie schaute sehr besorgt.
»Ja«, sagte Tuon. »Die Führerin wurde vergiftet, und die Drachen ziehen kreischend ihre Kreise am Himmel. Es kommt mir vor, als sei hier niemand mehr sicher, ganz zu schweigen von jemandem, der von den Glaubenstreuen gesucht wird.« Sie holte tief Luft. »Wir müssen dich aus der Stadt rausschaffen.«
Shaans Magen verkrampfte sich. »Aber wohin sollte ich denn gehen? Und wie sollte ich irgendwo hinkommen?«
»Ich habe Freunde, auf die ich mich verlassen kann.« Tuon warf Meelin einen Blick zu.
»Mein Bruder führt eine Handelskarawane zurück in seine Heimatstadt in den Freilanden«, sagte Meelin. »Er bricht heute Abend noch auf.«
Die Freilande? Shaan sah zu Tuon. »Aber ich kenne dort niemanden.«
»Und niemand dich. Deshalb ist es ja der sicherste Ort für dich.« Sie griff nach Shaans Händen. »Ich habe ein bisschen was gespart, nicht viel, aber es wird für eine Weile genügen.«
Shaan trat einen Schritt zurück und schüttelte den
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