Der Herr Der Drachen: Roman
versuchte, ihren Blick aufzufangen. Sie fühlte sich bis zum Zerreißen angespannt. »Er war ein Freund von dir, nicht wahr?«
Sie nickte und sah auf ihre Hände, denn sie hatte Angst vor dem, was Rorc in ihrem Gesicht lesen würde. Er jedoch deutete ihre Angst fälschlicherweise als Trauer und sagte: »Gut, dann geh. Ich denke, ich werde schon bald wieder etwas für dich zu tun haben.«
Dankbar verließ sie ohne Hast das Zimmer. Ihre Hände zitterten auf der Klinke, als sie die Tür hinter sich schloss, und eine entsetzliche Angst um Shaan schnürte ihr die Kehle zu.
26
S haan schob sich durch die Straßen des Kaufmanns-Viertels und drängte sich durch die anschwellende Menschenmenge. Fette Männer in Seidenhemden stolzierten an den Läden vorbei und gaben sich den Anschein von Wichtigkeit, und Frauen in langen Kleidern und mit schweren Goldreifen an den Armen stürzten in die Geschäfte hinein und wieder heraus, dicht gefolgt von ihren Bediensteten. Der Geruch von Gewürzen hing in der Luft, und dürre Boten, gekleidet in den Farben des Hauses ihres Arbeitgebers, schlängelten sich durch die Massen wie schnelle Strömungen in einem langsamen, gleichmäßigen Fluss.
Shaan hatte noch einige kleine Münzen in ihrer Tasche, und so blieb sie stehen, um sich ein süßes Brötchen mit weichem Käse bei einem Straßenhändler zu kaufen. Der Teig war bröckelig, und während sie ringsum die Leute beobachtete und vom Gebäck abbiss, landeten ein paar Krümel auf ihrer Kleidung. Die letzten zwei Stunden hatte sie in einem kleinen Kaf-Haus in einer Seitenstraße des Viertels vertrödelt. Dem Besitzer machte es nichts aus, wenn hin und wieder das einfache Volk für eine Tasse Kaf hereinschaute, solange es sich nach hinten setzte. Aber Shaan hatte sich nur eine einzige Tasse leisten können, und war irgendwann gezwungen gewesen, wieder zu gehen. Sie hatte wenig Lust, ins Red Pepino zurückzukehren, denn das hätte Fragen und Auseinandersetzungen bedeutet. Sie glaubte, dass sie dafür noch nicht bereit war, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie Tuon erklären sollte, dass sie mit einem Mal einen Bruder hatte. Nicht, dass sie sich dessen sicher war oder dass sie selber daran glaubte. Noch einmal biss sie von dem Brötchen ab und besah sich missmutig ihre verletzte Hand.
Der Traum, der sie dieses Mal heimgesucht hatte, war viel schlimmer gewesen. Drachen hatten Menschen in Stücke zerrissen und Kinder zerteilt, und alle Bestien hatten ihr zugeflüstert: Arak-si . Es war so schwer gewesen, aus diesem Traum zu erwachen, und selbst als es ihr gelungen war, war es einzig Tallis’ Anwesenheit, die sie davon überzeugte, dass sie wieder in ihrer eigenen Welt war, fernab vom Feuer und von den Stimmen.
Mit zittrigen Händen reichte sie dem Standbesitzer den kleinen Teller zurück, auf dem ihr Brötchen gelegen hatte. Sie konnte Tallis nicht davon erzählen, noch nicht. Schon jetzt spürte sie, dass er zu viel von ihrer Angst wahrgenommen hatte, und sie war noch nicht bereit, alles mit ihm zu teilen. Außerdem vermutete sie, dass es nur einen Mann gab, der ihr helfen konnte. Morfessa hatte gewusst, was das Wort bedeutete. Er wusste viel, und er hatte ihr bereits geholfen. Aber wie sollte sie zu ihm Kontakt aufnehmen? Und konnte sie ihm vertrauen?
Sie lenkte ihre Schritte in Richtung Hafen, und in Gedanken ging sie immer wieder ihre Möglichkeiten durch. Sie hatte gerade eine Straßenecke erreicht, als eine seltsame Übelkeit in ihr aufstieg. Shaan wurde langsamer und drückte die Hände auf den Magen, während sie sich fragte, ob das süße Brötchen einen Stich gehabt hatte. Doch dann, ohne Vorwarnung, stand ihr klar und lebendig das Bild Tallis’ vor Augen, der auf dem Rücken eines Drachen saß. Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn. Sie spürte, wie die Verbindung zu ihm dünner wurde, wie ein Faden, der von der Spindel abgezogen wurde. Es war, als ob ihr ein Teil ihres Fleisches von den Knochen gerissen würde. Mit einem Aufschrei, der alle Umstehenden zusammenfahren ließ, verfiel Shaan in einen Laufschritt, schlängelte sich um Menschen und Wagen herum und starrte dabei hinauf in den Himmel. Als sie zwischen zwei Gebäuden hindurchschoss und auf die Straße gelangte, die an der Küstenlinie entlangführte, rutschte sie aus und wäre beinahe gestürzt. Sie drehte sich um und schaute angestrengt zur Drachenanlage, und da entdeckte sie den Schatten zweier Drachen, die wie riesige Seemöwen vor dem
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