Der Herr Der Drachen: Roman
Parfüm. »Das ist für dich. Es muss so aussehen, als ob du einen Grund hattest, hierherzukommen. Ich besuche dich, wenn hier alles vorbei ist.«
»In Ordnung. Sei vorsichtig.« Tuon drückte Shaan ein letztes Mal die Hand, dann war sie verschwunden, und die Hintertür schloss sich leise. Shaan stand unsicher in der Mitte des Raumes und starrte auf die Tür.
»Komm.« Meelin packte sie am Arm. »Uns bleibt nicht viel Zeit.« Und sie zog sie hinter sich her nach oben.
Für Shaan verschwammen die restlichen Ereignisse des Tages. Sie wurde gewaschen, ihr Haar parfümiert, und ihre Nägel wurden mit einer dunkelroten Farbe bestrichen. Ihre Arbeiterkleidung aus der Drachenanlage wurde einem jungen Mädchen mit ihrer Statur angezogen, deren wunderschönes, langes Haar kurz geschoren werden musste. Seine hellere Haut wurde mit einem Puder eingestäubt, sodass sie dunkler erschien. Dann wurde das Mädchen mit einer Phiole Öl auf die Straße hinausgeschickt, eine Hand mit einem Verband umwickelt.
Meelin deckte Shaans Verbrennung mit einer getönten Salbe ab, die die Verletzungen beinahe unsichtbar machte, und trug silbrigblaue Farbe auf die Lider ihrer Augen auf, ehe sie sie mit einem Stückchen Kohle schwarz umrandete. Anschließend bemalte sie ihre Lippen mit einem roten Pulver, das mit Öl vermischt worden war. Als sie fertig war, hätte Shaan sich beinahe selber nicht mehr wiedererkannt. Sie trug ein ärmelloses, meergrünes Kleid, das bis beinahe zum Bauchnabel hin weit ausgeschnitten war und in der Taille von Seidenbändern gehalten wurde. Ihr Haar war sauber, weich und duftend, und ein Reif aus gehämmertem Kupfer hielt es ihr aus dem Gesicht. Ein schlichtes Tuch aus heller, türkisfarbener Seide hatte sie sich um den Kopf geschlungen, und es fiel ihr locker bis auf die Schultern. Winzige Perlen aus buntem Glas waren auf den Saum genäht, sodass es im Licht glitzerte, wenn sie sich bewegte. Außerdem konnte sie sich das Tuch übers Gesicht ziehen und so befestigen, dass nur ihre Augen zu sehen waren, so wie die Frauen der Freilande es zu tun pflegten.
»Na bitte.« Meelin trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. »Nun bist du die Tochter eines Händlers der Freilande. Und denk immer daran, dass die Frauen dieser Gegend nicht mit fremden Männern sprechen. Sag nichts, es sei denn, mein Bruder Menon fordert dich dazu auf. Wenn andere Männer dich ansehen, starr einfach zurück, als wären sie ein Nichts, als wären sie der Staub unter deinen Füßen. Reiche Frauen aus den Freilanden befolgen viel strengere Regeln als die Frauen hier. Lass dich von meinem Bruder leiten. Er wird dich auf dem Rückweg von Geschäften,
die ihn ins Bürger-Viertel führen, in dem ›Gasthaus zum Seefalken‹ treffen.«
»Was soll ich denn tun, wenn ich dort ankomme und mit keinem Menschen sprechen darf?«
Shaan spürte Furcht in sich aufsteigen, als ihr klar wurde, wie wenig sie von den Freilanden wusste.
»Menon wird dir helfen. Mit den Münzen, die dir Tuon gegeben hat, kann er dir dabei behilflich sein, irgendeinen kleinen Laden zu eröffnen. Vielleicht kannst du ja mit Parfüm handeln.«
»Aber ich verstehe nichts vom Handel«, sagte Shaan.
»Dann wirst du es eben lernen«, antwortete Meelin barsch.
Einige Stunden später, als die Sonne unterzugehen begann, wurde Shaan verstohlen durch die Hintertür von Meelins Laden geführt und in einen Wagen mit Verdeck verfrachtet, der von einem missmutigen Muthu gezogen wurde. Meelin gab Shaan noch rasch einige Dinge mit auf den Weg und beschrieb ihr ihren Bruder, dann ließ sie das Verdeck herunter und Shaan war allein in dem Wagen, der sich durch die abendliche Menschenmenge ihrem nächsten Ziel entgegenschob.
Es war stickig und heiß unter der dicken Leinwand, und Shaan begann zu schwitzen. Sie wünschte sich, sie hätten einen offenen Wagen für sie besorgt. Stöhnend löste sie ihren Gesichtsschleier und wedelte sich mit dem Stoff Luft zu. Sie konnte den Lärm auf den Straßen draußen hören, und die vertrauten Gerüche von gebratenem Fleisch, salziger Luft und verrottendem Fisch stiegen ihr in die Nase. Für sie war es unvorstellbar, dass sie das alles zurücklassen sollte. Sie wollte das nicht. Was hatte sie denn in einem Land verloren, in dem sie niemanden kannte und keine Ahnung hatte, wie sie überleben sollte? Einen kurzen, verrückten Moment lang dachte sie daran, das Verdeck aufzuklappen und durch die Straßen zurück zum Red Pepino zu rennen. Sie
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