Der Herr Der Drachen: Roman
Torgs Augen waren ernst und müde, aber es lag kein Vorwurf darin.
»Ich kenne dich, Tuon. Du dachtest, sie sei in Schwierigkeiten, und wolltest sie retten, aber es ist gut möglich, dass du sie damit nur umso verletzlicher gemacht hast.«
»Wovon sprichst du?« Sie versuchte, ihre Stimme scharf klingen zu lassen, als ob er ihr Lügen auftischen würde.
»Ich habe heute Morgen mit Rorc gesprochen.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Er hat sie nicht gesucht, weil er glaubt, sie habe etwas Unrechtes begangen, sondern wegen dessen, was sie sein könnte.«
»Das ergibt für mich keinen Sinn, und außerdem will ich nicht …«
»Er meint, sie könnte eine Nachfahrin des Gefallenen sein«, schnitt er ihr das Wort ab, »und wenn Azoth sie findet, könnte sie für ihn der Schlüssel sein, seine Macht wiederzuerlangen.«
»Wie bitte?«, flüsterte Tuon. »Der Gefallene ist zurück?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Torg grimmig. »Aber ich weiß, dass irgendetwas Shaan in letzter Zeit Sorgen bereitet hat. Irgendetwas hat sie verändert, sie schien …« Er breitete die Hände aus. »… anders. Und die Drachen in der Anlage kreisen schreiend über der Stadt. Der Gefallene war der Herr der Drachen, ihr Meister, und wenn er zurückkommen sollte, würden sie es ganz sicher spüren.«
Tuon antwortete nicht. Sie starrte in die Flamme der Lampe. Das Gleiche hatte sie an jenem Morgen auf dem Markt zu Shaan gesagt. Wie lange war das nun schon her? Sie dachte an die Träume, die Shaan gequält hatten, und an den Tag, an dem sie aus der Anlage zurückgekommen war, bleich und innerlich aufgewühlt. Was war dort geschehen? Aber Tuon konnte einfach nicht glauben, dass sie einen Fehler gemacht hatte, als sie sie zu beschützen versuchte.
»Rorc kommt heute Nacht noch hierher«, sagte Torg. »Du solltest ihm sagen, wo sie sich befindet.«
Tuons Herz schlug ihr plötzlich bis zum Halse. »Was? Wann?«
Er sah beunruhigt aus. »Ich weiß es nicht. Er ist jetzt schon spät dran.«
Tuon fühlte einen Anflug von Sorge. Rorc verspätete sich nie.
»Ist er …« Aber sie konnte ihren Satz nicht beenden. Die Tür zum Hof wurde mit einem Mal aufgerissen, sie sah hoch; ihr Herz hämmerte. Doch es war nicht Rorc. Da stand ein Fremder: ein großer, dunkelhaariger Mann.
»Torg Fairwind«, sagte dieser. »Wo ist der Ring des Propheten?« Torg wurde ganz still, dann erhob er sich langsam vom Tisch und machte einen Schritt zurück, sodass er sich nicht mehr im hellen Schein der Lampe befand.
»Wer seid Ihr?«, fragte er.
Der Mann lächelte, und Tuon verschlug es den Atem, als sie sein schönes Gesicht sah, das sie zugleich abstieß. Da war nichts Irdisches im Schwung seiner Wangenknochen und in seinen fein geschnittenen Augen. Eine gefährliche Stärke ging von
ihm aus. Der Mann betrat die Küche und schloss die Tür. Erst in diesem Moment kam eine Frau hinter seinem Rücken hervor ins Licht.
»Shaan!« Tuon sprang auf. Aber Shaans Gesicht war seltsam leer. Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen, doch sie blickte durch Tuon hindurch. Der Mann ließ neugierig den Blick zu Tuon flackern, und sie spürte, wie die Angst sie überfiel. Da war nichts Menschliches in diesen Augen. Mit einem schwachen, beängstigenden Lächeln wandte er sich wieder an Torg.
»Wo ist er, Fairwind? Ich weiß, dass du ihn hast.«
»Ich weiß von keinem Ring«, entgegnete Torg.
Das Lächeln verschwand vom Gesicht des Fremden, und die Androhung von Gewalt lag im Raum. »Treib keine Spielchen mit mir, Mann der Inseln. Du bist der Erbe des Propheten, und seinem Willen zufolge wird der Ring von einem Kind an das nächste weitergegeben. Ich weiß, dass du ihn hast, und er gehört mir. Gib ihn mir.«
»Tuon, nimm Shaan und verschwinde«, befahl Torg, ohne sie anzusehen, und der Ton in seiner Stimme steigerte ihre Angst. Und dann packte der Fremde mit einem Mal Shaan am Handgelenk und zog sie an sich.
»Nein.« Er starrte Tuon an, und sie merkte plötzlich, dass sie nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen. Ihre Füße fühlten sich an, als wären sie am Boden festgewachsen; ihr Geist war willig, aber ihre Glieder wollten ihr nicht länger gehorchen. »Shaan!« Tuon versuchte, die Hand nach ihr auszustrecken, aber Shaan schien nichts von ihrer Umgebung mitzubekommen. Stattdessen starrte sie den dunkelhaarigen Mann mit der Bewunderung eines Kindes an. Tuon lief es eiskalt über den Rücken, als sie sich fragte, ob es wahr war, was Torg zuvor gesagt hatte.
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