Der Herr Der Drachen: Roman
sich zu einem Lächeln, und langsam nahm er seine Hand von ihrem Hals. Er stand dort, sah zu ihr hinunter und hielt sie nur noch kaum merklich am Handgelenk fest.
»Aber ich werde dir auch weiterhin die Stimme nehmen müssen«, sagte er mit einem Stirnrunzeln. »Auch wenn ich es leid bin.« Er neigte seinen Kopf leicht zu einer Seite, und streichelte mit einer Hand ihre Wange. »Aber das hier wird irgendwann wieder nachlassen, und dann wirst du erneut zu fliehen versuchen.« Ein kurzer Anflug von Enttäuschung huschte über sein Gesicht.
Shaan wollte ihm plötzlich mit jeder Faser ihres Körpers mitteilen, dass das nicht stimmte, dass sie ihn niemals verlassen würde, nein, natürlich nicht. Aber sie konnte nicht sprechen.
»Und nun muss ich wissen, wo er ist.« Mit einem Mal war ein Bild in ihrem Geist: ein goldener, schimmernder Ring, und an seiner Außenseite sah sie eine geschwungene Linie, die aussah wie der Schwanz eines Drachen, in das Metall eingeätzt. »Weißt du es?« Seine Stimme war voller Gier, und Shaan strengte sich an, ihm die Antworten zu geben, die er verlangte. Ja, nun, wo er hier war, konnte sie ihn spüren, diesen Ring. Sie hatte ihn schon zuvor gesehen. Warum hatte sie nie begriffen, wie wertvoll er war, und dass er ihr gehörte?
»Ich weiß, wo er ist«, antwortete sie in Gedanken, und ihre Hände streckten sich aus, um ihn zu berühren. Azoth sah in ihren
Geist und erkannte den Dieb, der den Ring gestohlen hatte. Sein Lächeln war triumphierend.
»Komm.« Er zog an ihrer Hand. »Wir haben viel zu tun. Wir müssen jemandem eine Lektion erteilen.« Gehorsam nickte sie und folgte ihm willig, als er sie aus der Gasse hinaus zum Hafen führte.
Torg und Tuon saßen schweigend zusammen am Küchentisch, und eine brennende Öllampe stand zwischen ihnen. Die anderen Frauen hatten schon längst ihre Freier verabschiedet und waren zu Bett gegangen, aber Tuon sorgte sich um Shaan und hatte keinen Schlaf gefunden. Sie war hinab in die Küche gekommen und hatte Torg schweigend am Tisch sitzend vorgefunden, die Stirn in Falten gelegt, mit abwesendem Blick. Er schenkte ihr etwas Wein ein und schob ihr wortlos den Becher hin. Sie setzte sich, ohne den Wein anzurühren.
Seit ihrem Treffen mit Rorc war sie ziellos von einem Zimmer des Gasthauses ins nächste gelaufen und hatte zwischen Panik, Traurigkeit und Angst geschwankt. Eine Nachricht von Meelin hatte sie erreicht: Menon war im Bürger-Viertel aufgehalten worden, und als er endlich im Gasthaus angekommen war, war Shaan schon nicht mehr dort gewesen. Tuon war ganz krank vor Angst. Menin war zu besorgt gewesen, er könne die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken, wenn er nach Shaan fragte. Feigling, dachte sie. Wohin konnte Shaan verschwunden sein? War sie auf eigene Faust losgezogen? War sie inzwischen schon mit einer anderen Karawane auf dem Weg in die Freilande? Oder hatte Rorc herausgefunden, was Petar zugestoßen war, und die Glaubenstreuen hatten Shaan längst aufgespürt? Hatten sie sie in Gewahrsam genommen? Vielleicht wussten sie inzwischen, dass auch sie selbst in die Sache verwickelt war. Was konnte sie nur tun? Sie war im Red Pepino geblieben für den Fall, dass Shaan zurückkehrte, doch wie lange konnte sie noch warten? Ihre Gedanken jagten sich im Kreis, bis sie das Gefühl hatte, wahnsinnig zu werden.
Sie hatte sich überlegt, ob sie weglaufen sollte. Zu früherer Stunde in dieser Nacht hatte sie in ihrem Zimmer gestanden und ein Kleid zusammengelegt und wieder auseinandergefaltet, während sie versucht hatte, einen Plan zu machen. Sie könnte ihrem eigenen Rat folgen und in die Freilande flüchten. Aber was wäre, wenn sie gefasst würde? Rorc mochte einen Verführer auf sie ansetzen, und dann wäre alles vorbei. Das konnte sie nicht riskieren. Und wem versuchte sie eigentlich etwas vorzumachen? Sie wollte nicht fort. Fortgehen würde bedeuten, ihn nie wiederzusehen.
Torgs Stuhl scharrte über den Boden, als er aufstand. »Bist du hungrig?«
Tuon schüttelte den Kopf und starrte in die unbewegliche Flamme der Lampe.
Torg zog einen halben Laib Brot zu sich, schnitt eine unförmige Scheibe ab, belegte sie mit Käse, biss dann aber doch nicht davon ab. Er saß einfach nur da und zerbröselte die Rinde.
Tuon warf ihm einen Blick zu. Es sah ihm gar nicht ähnlich, so niedergeschlagen zu sein. »Torg, bist du …«
»Du hast sie aus der Stadt geschafft, oder?«, unterbrach er sie. »Shaan ist fort, nicht wahr?«
Tuon zögerte.
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