Der Herr Der Drachen: Roman
mehr mit, denn der Schmerz drängte sie in die Dunkelheit. Als sie wieder zu sich kam, lag sie über Azoths Schulter. Er lief schnell, und sie prallte bei jedem Schritt immer wieder schmerzhaft gegen ihn. So hob sie mühsam den Kopf und klopfte schwach auf seinen Rücken. Er blieb stehen, und die Welt drehte sich für Shaan um die eigene Achse, während er sie hinunter auf ihre Füße stellte. Sie taumelte und wäre beinahe zu Boden gestürzt, als das Blut in ihren Ohren rauschte. Azoth packte sie am Arm.
»Vorsicht!«, flüsterte er. Sie blinzelte und versuchte, ihren Blick zu schärfen. Sie befanden sich in einer engen Gasse zwischen zwei verfallenen Gebäuden. Abfall türmte sich entlang einer Mauer, und der Gestank von Verwesung und Urin war übermächtig. Dieser Ort kam ihr entfernt bekannt vor. Waren sie in der Nähe des Hafens? Es herrschte noch immer Nacht, aber Shaan schätzte, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Sonne aufging. Sie ließ sich von Azoth stützen und versuchte, ihn hinzuhalten, um sich orientieren zu können. Nicht weit vor ihnen endete die Gasse und mündete in eine breitere Straße. Shaan konnte die dunklen Schatten eines zweigeschossigen Gebäudes sehen, das sich in gefährlichem Winkel gegen die benachbarten Hauswände lehnte, und den kleinen, zusammengerollten Umriss eines Menschen, der vor einer Türschwelle lag. Mit einem Schlag traf sie die Erkenntnis, dass sie sich in der Gasse der Crist-Verkäufer befanden.
»Weißt du jetzt, wo wir sind?«, fragte Azoth.
Aber sie antwortete nicht, sondern versuchte, sich aus seinem Griff zu winden.
Azoth stieß ein tiefes Lachen aus, legte einen Arm um ihre Taille und kam mit seinem Mund ganz nah an ihr Ohr. »Warum wehrst du dich gegen mich? Du brauchst mich doch. Du gehörst zu mir.«
Ein festes Band der Angst war um ihre Brust geschnürt. »Lass mich gehen!« Ihre Arme und Beine waren nicht sehr stark, aber sie kämpfte trotzdem gegen ihn. Voller Wut ging sie auf ihn los und schlug mit ihrem freien Arm nach ihm, trat ihn und zappelte in seinem Griff. Es war ein so plötzlicher Angriff, dass er ihn unvorbereitet traf. Er geriet aus dem Tritt, und mit einem Satz war Shaan beim Eingang zur Gasse und witterte ihre Freiheit. Aber er überragte sie lang und hatte eine größere Reichweite. Sie hörte ihn in sich hineinlachen, als er seine Hand auf ihre Schulter fallen ließ und sie zu sich zurückriss. Er wirbelte sie herum, sodass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, schloss eine seiner Hände um ihre Kehle und stieß sie gegen eine feuchte Wand.
»Hör jetzt auf damit«, sagte er ruhig. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, aber er hielt sie mit seiner anderen Hand davon ab. »Hör endlich auf«, wiederholte er, und seine Augen bohrten sich in ihre. Ein seltsames Gefühl erfasste sie, und sie spürte, wie ihr ganzer Drang, vor ihm fliehen zu wollen, versiegte. Sie strampelte nicht länger, sondern erschlaffte an der Wand, nur von seiner Hand an ihrem Hals aufrecht gehalten.
»Ja«, sagte er, und seine Zähne blitzten weiß, als er sie anlächelte. Sein kantiges Gesicht war unmenschlich schön in dem schwachen, blaustichigen Licht. Sein Haar schien mit der Dunkelheit ringsum zu verschmelzen, und seine Augen, mit denen er sie fixierte, waren beinahe lilafarben. Shaan war gebannt davon, wie der Schein des Mondes auf seinem rechten Wangenknochen spielte und den Konturen seiner Lippen die Schärfe nahm. Sie spürte die Wärme seines Körpers. Ihr Atem ging schneller, und ein plötzliches Verlangen stieg wie heißer Rauch in ihren Gliedern auf.
Er sah ihr in die Augen. »Ja«, flüsterte er. Die Hand an ihrem Hals lockerte den Griff, während ihr die andere sanft das Haar
aus der Stirn strich. »Shaan.« Seine Finger streichelten ihre Wange und zeichneten den Bogen ihrer Wangenknochen nach. »Ich habe nach dir gesucht und nach dir gerufen.« Seine lilafarbenen Augen bohrten sich in sie. »Weißt du, was du bist? Und wer du bist?« Ein Finger streichelte ihr Kinn, und er lächelte. »Das wirst du erfahren, und dann wirst du mich nie wieder verlassen wollen. Ich werde immer für dich sorgen.«
Sie schaute zu ihm empor und wusste, dass es die Wahrheit war. Er würde sie nie mehr verlassen, sie gehörte ihm. Es fühlte sich richtig an, und sie nickte; und mit einem Schlag ließ sie den angehaltenen Atem ausströmen. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, warum sie hatte davonlaufen wollen. Seine Lippen verzogen
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