Der Herr Der Drachen: Roman
auf. Stöhnend stieß er Mishi zurück, und packte Alterins Handgelenk. Sie schrie auf, als ihre Knochen knirschten, und er murmelte etwas mit leiser Stimme. Doch Alterin hörte ihn kaum, denn die Berührung seiner Hände mit ihren hatte eine Verbindung zwischen ihnen hergestellt.
Einen Moment lang wurde die Welt schwarz um sie herum, dann stürmten unzusammenhängende Bilder auf ihren Geist ein: geflügelte Kreaturen, schwarz wie die Schatten, ein sterbender Mann, das Gesicht einer Frau, der Wind, der an ihrem Gesicht vorbeistrich, und ein heißes, karges Land. Und hinter all dem konnte Alterin spüren, wie sich Angst und Schmerz entfalteten. Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, und strampelte, um sich zu lösen. In ihren Ohren war ein lautes Brüllen, und dann spürte sie ihn plötzlich in ihrem Innern. Ihr Blickfeld wurde wieder klarer, und sie starrte dem jungen Mann entsetzt in die Augen. Er war in ihrem Geist, und sie konnte ihn fühlen. Sie kannte seinen Namen, und er wusste auch ihren.
Uriel ? In ihrem Geist flüsterte er ihren wahren Namen, zögernd und unsicher. Alterin schauderte, als sie ihren Namen hörte. Niemand kannte ihn außer derjenigen, die ihn ihr gegeben hatte. Sie holte Luft und sah seine Augen größer werden, als er spürte, wie sich ihre Lungen ausdehnten und zusammenzogen. Ihre Blicke waren miteinander verschmolzen, und Alterin wusste, dass er ihren Atem hätte anhalten können, wenn er es nur gewollt hätte. Er könnte ihr Herz anhalten, und sie sah, dass auch er es wusste.
Aber das Entsetzen, das sie in ihm fühlte, bedeutete, dass er nicht wusste, wie er sich wieder zurückziehen konnte.
Lass los , sagte sie ihm in Gedanken, starrte ihm in die Augen und versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. Aber er schien erstarrt zu sein, und seine Hände umklammerten ihre Handgelenke. Tallis . Sie probierte es mit dem Namen, der nun ein Teil von ihr war. Tallis . Sie spürte, wie seine Arme zitterten. Er war entkräftet von seiner Verletzung. Alterin drängte ihn. Lass mich los.
Doch sein Griff wurde fester, und mit schrecklicher Furcht spürte sie, dass sein Körper schwächer wurde. Er verlor den Kampf um sein Bewusstsein und zog an ihr, damit sie es festhalten sollte. Ihr Blickfeld verschwamm, und hinter ihren Augen breitete sich ein Schmerz aus. Uriel !, sagte er wieder, und sie spürte die Dunkelheit nach ihr greifen. Dann riss er sich unvermittelt los; Mishis Arme umschlangen sie und zogen sie aus seinem Griff. Zitternd stürzte Alterin nach hinten zu Boden.
»Kleiner Fisch! Kleiner Fisch!« Mishi rief sie bei ihrem Kosenamen. »Was ist geschehen?« Ihre weichen Hände legten sich auf ihren Kopf und auf ihre Arme.
»Nichts, nichts. Mir geht es gut.« Sanft schob sie sie weg, tätschelte ihren Arm und blieb noch einen Augenblick sitzen und atmete schwer. Dann trug sie Mishi auf, Tallis’ Wunde zu säubern und zu verbinden, und achtete sorgsam darauf, den jungen Mann nicht noch einmal zu berühren. Seine Verletzung war nicht so schlimm wie die des anderen, aber sie ließ Mishi auch hier ein starkes Heilpuder aufstäuben, dem ein Schlafmittel beigesetzt war. Es wäre besser, wenn er eine Weile schliefe - besser für sie beide.
Nach getaner Arbeit lehnte sie sich gegen die Wand in Mishis Hütte und schaute aus dem kleinen Fenster. Ein leichter Nieselregen pladderte auf die dicken, grünen Blätter des Onunga-Baumes draußen, und die Luft war warm. Doch Alterin spürte eine Kälte über ihre Haut streichen wie ein Flüstern. Sie fuhr mit der Hand unter ihr Kleid und zog ein Stück eines Merapodzahnes heraus, das ihr an einem Band um den Hals hing. Es war poliert und zur
Gestalt eines Lunavogels geschliffen worden. Warm und weich lag es in ihrer Hand. Sie schloss die Faust darum, machte die Augen zu und rief den starken Geist dieser beiden Tiere zu Hilfe.
Die Ankunft dieses Mannes machte ihr Angst. Sie war auf einer Traumsuche gewesen, als der Semorphim sie gefunden hatte, und wie der bittere Nachgeschmack einer Faran-Frucht konnte sie noch immer Tallis’ Vibrieren in der Zwischenwelt spüren. Schon da hätte sie es wissen müssen, aber sie war leichtsinnig gewesen, und es hatte sie unvorbereitet getroffen.
Sie ließ den Talisman wieder los und stand auf. Anyu erwartete sie, doch würde er auf das gefasst sein, was sie ihm berichten musste? Wie viele ihres Volkes glaubte er nicht ernstlich daran, dass es während seiner Lebensspanne zur Rückkehr kommen würde. Es war so
Weitere Kostenlose Bücher