Der Herr Der Drachen: Roman
eine tote Beute.
Schließlich gingen sie um eine riesige Pflanze mit dicken Blättern herum und traten aus dem Grüngewirr hinaus auf eine Lichtung. Kleine Hütten auf Pfählen waren auf der schmalen Fläche
verstreut, die dem Dschungel abgetrotzt worden war. Rings herum erhoben sich riesige Bäume wie eine Schattenmauer, und obwohl die Hütten so hoch über dem Boden errichtet waren, dass Tallis zweimal darunter hindurchgepasst hätte, nahmen sich die Bauten wie Spielzeug vor dem Hintergrund des umliegenden Dschungels aus.
Ein hoch gelegener Laufsteg führte zwischen den Hütten hindurch. Diese Brücken waren aus Lianen und einer Art steifem Schilf gefertigt. Der Boden darunter war mit dickem, kurzem Gras bewachsen. Sanft flackernde Laternen waren in gleichmäßigen Abständen auf dem Hauptlaufsteg angebracht und verbreiteten Lichtkreise zwischen den Hütten. Irgendwo zu seiner Linken hörte Tallis das Rauschen des Flusses.
Die Frau bedeutete ihnen, ihr zu folgen, als sie einen dicken Stamm erklomm, in den Stufen eingekerbt waren, sodass er als Leiter dienen konnte. Sie kletterte flink empor und beobachtete sie, wie sie sich abmühten, um selbst aufzusteigen und Jared hochzuhieven. Der Stamm stand in einem steilen Winkel, und Tallis’ Schulter brannte, als er Attars Rücken stützte, um ihm zu helfen, das Gleichgewicht zu halten. Sein Mund war trocken, und als sie endlich oben angekommen waren, ging sein Atem rasselnd. Die Frau drehte sich um, machte eine kurze Kopfbewegung und eilte davon. Keuchend und unter Schmerzen folgten sie ihr. Sie kamen an einem untersetzten, älteren Mann vorbei, der auf einem anderen Laufsteg die Laternen löschte. Er bedachte sie mit einem mürrischen Blick, doch Tallis beachtete ihn kaum, so sehr war er darauf bedacht, der kleinen Frau auf den Fersen zu bleiben, die auf dem Laufsteg abbog. Sie stürmte über eine Lianenbrücke zu einer schmalen Hütte, vor der sie stehen blieb. Die Brücke schwang hin und her und knirschte, als Tallis sein Gewicht darauf stützte, und mit einem Stirnrunzeln sah die Frau zu ihm zurück. Unwillkürlich fragte er sich, ob die Brücke unter ihm nachgeben würde, und erst dann begriff er, dass die Frau ihm lediglich zu verstehen geben wollte, dass er dort warten sollte, wo er sich gerade befand.
Tallis gab Attar ein Zeichen, dass er auf dem Laufsteg bleiben
sollte, und mit einem Nicken in ihre Richtung schob die Frau einen gewebten Türvorhang zur Seite und verschwand im Innern der Hütte. Es war dunkel ringsum, denn die Laterne in der Nähe war bereits gelöscht worden. Der Laufsteg endete wenige Schritte dahinter am Stamm eines riesigen Baumes. Von da aus führte eine Leiter aus Schlingpflanzen hinauf ins Blätterwerk. Dort oben, hoch in den Ästen, konnte Tallis noch eine andere Hütte erkennen. Alles war sehr still und ruhig, und es lag ein schwacher Duft von Blüten in der Luft.
»Warum spricht sie denn nicht?«, fragte Tallis Attar.
Er zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Ich habe gehört, sie würden unsere Sprache sprechen, aber ich kenne auch seltsame Geschichten über dieses Volk.«
»Was denn für Geschichten?«
Attar ließ den Blick zur Hütte huschen. »Dass sie mit den Toten sprechen, und dass sie selbst gar keine Menschen, sondern Wesen aus Schatten und Nebel sind.« Er schnaubte. »Nun, ich finde, sie sieht ganz lebendig aus.« Er deutete mit dem Kinn auf eine Stelle hinter Tallis, und als dieser sich umdrehte, sah er, dass die Frau sie hereinwinkte.
Sie gingen ihr nach in die kleine, schummrige Hütte. Tallis konnte eine Matte auf dem Boden und einige quadratische, dunkle Gegenstände entdecken, doch die Frau schickte sie in ein zweites Zimmer. Sie traten ein, und Attar legte Jared auf eine dicke Matte an der Wand.
Er stöhnte laut, und eine ältere Frau mit einem runden Gesicht und einem noch runderen Körper kam hinter ihnen herein und machte sich daran, eine kleine Öllampe zu entzünden. Sie stellte eine mit Wasser gefüllte Holzschüssel auf den Boden, legte ein Stück Stoff daneben und machte dann eine Geste in Richtung der jungen Frau. Diese nickte und kniete sich neben Jared, nachdem sie Tallis und Attar aus dem Weg gescheucht hatte.
Tallis blieb neben ihr stehen und sah zu, wie sie den notdürftigen Verband abnahm. Warum sagte sie denn nichts zu ihnen? Hinter seinen Augen pochte der Schmerz, seine Schulter brannte,
und seine Glieder fühlten sich überanstrengt und müde an. Aber er würde sich nicht zur Ruhe legen,
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