Der Herr Der Drachen: Roman
dass sie bei einem kleinen Tor angekommen waren. Sie befanden sich inzwischen in den oberen Hügeln der Stadt. »Komm.« Veila stieß das Gatter auf, und Tuon folgte ihr den schmalen Weg hinunter.
Das Haus der Seherin lag etwas von der Straße zurückgesetzt inmitten eines überwucherten Gartens. Es hatte nur eine Ebene und dicke, runde Mauern, die durch eine Schicht unbehauener, roter Steine vom Boden getrennt waren. Veila öffnete die Tür, und Tuon war erstaunt, dass kein Bediensteter herbeieilte.
»Hast du denn keine Angestellten?«, fragte sie.
»Ich ziehe es vor, allein zu leben.« Veila blieb unmittelbar hinter dem Eingang stehen, um den Docht einer Öllampe zu entzünden und das Dämmerlicht zu vertreiben. Tuon sah einen großen, offenen Raum, der schlicht eingerichtet war mit mehreren niedrigen Sofas und Kissen. In der Mitte lag ein Teppichläufer, und eine Reihe von Türen an der hinteren Wand des Zimmers stand auf. Dahinter erstreckte sich eine Steinterrasse bis in einen dicht bewachsenen Garten hinein.
Doch die schweren Wolken verdeckten das Sonnenlicht, und trotz der geöffneten Türen hätte der Raum ohne die Lampe im Dunkeln gelegen.
»Diese Wolken schlucken alles Licht«, murmelte Veila, als sie voranging und in einen Flur einbog. »Warte hier«, rief sie Tuon über die Schulter hinweg zu, ehe sie verschwand.
Zaghaft betrat Tuon das Zimmer und hockte sich auf die Kante eines der Sofas. Sie sah einen schwachen Widerschein ihrer selbst in einem Spiegel an der Wand: Bleich war sie, und sie saß mit hängenden Schultern da. Seit wann war sie so furchtsam? Sie drückte den Rücken durch und besah sich den riesigen Wandbehang links vom Spiegel. Es kam ihr nur wie ein wirbelndes Muster aus Farben und Schatten vor: Blau, Lilatöne und Rot mischten sich mit
verschiedenen Grünschattierungen. Während Tuon daraufstarrte, schienen sich Formen herauszubilden. So glaubte sie, einen Drachen zu erkennen, dessen Flügel gespreizt waren und der über einen endlosen Dschungel flog, doch als sie blinzelte, war das Bild wieder fort. Erschrocken wandte sie den Blick ab.
Veila kam zurück und hatte eine kleine, hölzerne Kiste dabei, die sie auf den Tisch am Ende des größten Sofas abstellte. Tuon sah ihr zu, wie sie eine Muschelschale herausnahm und mit einer Flüssigkeit füllte, die sie aus einer dunklen Glasflasche einschenkte. Sofort breitete sich ein kräftiger, würziger Geruch in der Luft aus.
Dann schaute Veila auf und sagte: »Damit bereite ich den Raum auf meine Queste vor.« Sie streckte die Hand aus. »Und nun komm mit. Wir müssen dir etwas zum Anziehen für die Reise zusammensuchen.«
Tuon fragte sich, wie sie in die Kleidungsstücke der winzigen Seherin hineinpassen sollte, folgte ihr aber den Flur entlang und durch einen Durchgang in ein kleineres Zimmer. Es überraschte sie, festzustellen, dass Veila eine Truhe mit Kleidung in den verschiedensten Größen besaß. Die Seherin suchte mehrere Kleider heraus, Unterwäsche, ein Paar dicke, lange Hosen und Stiefel, die Tuon auf dem Schiff würde tragen können. All das legte Veila in einen Lederbeutel, obenauf ein wunderschönes, lilafarbenes Schultertuch aus weicher, roher Seide und einen wasserdichten Mantel. Tuon war überwältigt von ihrer Großzügigkeit und brachte lediglich einen gestelzten Dank über die Lippen. Als sie fertig waren, hörte Tuon, wie eine Tür geöffnet wurde, und Männerstimmen drangen aus dem Hauptzimmer.
»Er ist da.« Veila legte den Sack auf den Boden, und Tuon folgte ihr aus dem Raum. Cyri und ein schwarz gekleideter Verführer standen in der offenen Tür. Cyri wandte sich ihnen zu, als sie eintraten. »Veila. Rorc schickt mich, damit ich während deiner Suche auf dich aufpasse.«
Veila seufzte. »Danke, dass du gekommen bist, aber du weißt, dass du nichts tun kannst, wenn …«
»Und wenn es so ist!« Cyri schnitt ihr das Wort ab und ergriff ihre Hände. »Aber ich wollte lieber hier sein.« Er lächelte kurz, dann sah er über sie hinweg zu Tuon. Sein kahler Schädel glänzte schwach im Schein der Lampe, und seine hellen Augen ruhten auf Tuon. »Rorcs Frau«, sagte er, und Tuons Herz zog sich zusammen, denn sie wusste nicht genau, was er damit gemeint hatte. »Schickt er sie mit dir mit, Veila?«
»Ja.«
Seine Augen musterten Tuon von Kopf bis Fuß, und er betrachtete sie eine Zeit lang wortlos. »Ich habe dich schon einmal gesehen«, sagte er schließlich, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Seherin
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