Der Herr Der Drachen: Roman
keinen Mann ist seine Vergangenheit je Geschichte«, entgegnete Morfessa, und nun sah er Rorc geradewegs in die Augen. Ein wenig vom alten Glanz war in seinen Blick zurückgekehrt. »Sie beeinflusst alles, was wir tun, und bestimmt, wer wir sind. Du verleugnest deine Vergangenheit, und trotzdem sehe ich, wie du dich nach ihr verzehrst. Du warst ein Jäger, ein Krieger der Wüstenlande, und auch jetzt noch kannst du nicht aufhören, dieser Mann zu sein.«
»Das ist nicht wahr«, sagte Rorc kalt.
»Und ob! Ich sehe dir an, wie du jetzt an euer Gesetz denkst, demzufolge Blut mit Blut gesühnt wird. Ich kann es in deinen Augen lesen. Wenn es möglich wäre, würdest du Arlindahs wahren Mörder ausfindig machen und ihn mit seinem Blut für ihres bezahlen lassen. Das ist der Brauch der Clans, und es ist noch immer dein Brauch.« Die Augen des alten Mannes, die auf Rorc ruhten, waren jetzt klar und wach.
Langsam erhob sich Rorc. »Es ist nicht länger mein Recht, so zu handeln. Ich bin ein Ausgestoßener. Mich gibt es für sie nicht mehr. Das weißt du, alter Mann, und du nimmst mir meine Ehre, wenn du immer wieder davon anfängst.«
»Da siehst du es!« Steif stand Morfessa auf. »Du sprichst noch immer von Ehre. Es liegt dir im Blut!«
Rorcs Inneres war wie zu Eis erstarrt und schmerzte. Er starrte Morfessa an und konnte nicht glauben, dass der alte Mann die einzige Sache ansprach, von der er nur allzu gut wusste, dass sie ihn wie nichts anderes verletzen konnte.
»Hat dir deine Trauer den Verstand geraubt?«, fragte er mit gefährlich leiser Stimme.
»Nein.« Morfessa packte ihn am Arm. »Aber ich denke darüber nach, was getan werden muss, damit wir überleben. Nilah ist nicht stark genug, um sich gegenüber Lorgon und seinen Anhängern zu behaupten, und sie ahnt nichts von der Gefahr, die Azoth darstellt. Sie werden versuchen, ihr einen Krieg gegen die Freilande aufzuzwingen, und ich fürchte, dass sich einige deiner Hauptleute da mit hineinziehen lassen werden.«
Rorc runzelte die Stirn und setzte zu Widerspruch an. Doch Morfessa schüttelte den Kopf. »Genau so wird es geschehen. Die Reiter und die Glaubenstreuen werden hinter dir stehen, aber die Soldaten werden dich verraten. Die Aussicht auf Reichtum, den es zu erringen gibt, wird sie überzeugen, und wenn die Landarmee erst einmal im Feld steht …« Er hielt inne.
»… werden wir nicht stark genug sein, um uns zu verteidigen, wenn Azoth kommt«, beendete Rorc den Satz.
»Ja, besonders dann, wenn uns die Drachen im Stich lassen und
sich auf seine Seite schlagen. Er war ihr Schöpfer, Rorc. Er könnte erneut über sie herrschen.«
»Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, fragte Rorc, obwohl ihm eine dunkle Vorahnung bereits verriet, worauf der alte Mann hinauswollte.
»Du musst die Clans überzeugen, sich uns anzuschließen.«
Rorc schüttelte den Kopf. »Worum du mich da bittest, ist unmöglich. Ich bedeute ihnen nichts mehr. Warum sollten sie auf mich hören?«
»Du bist ein großer Anführer - ein Befehlshaber. Das werden sie in dir sehen. Außerdem bist du nicht mehr der junge Bursche, der vor zwanzig Jahren hintergangen und ausgestoßen wurde. Und sie müssen von den Angriffen der wilden Drachen wissen. Sie werden sich fragen, wie es so weit kommen konnte, und du kennst die Antworten. Du kannst sie einen.«
Rorc sah zu dem alten Mann hinunter und fragte sich, warum er so großes Vertrauen in ihn setzte. »Es ist unmöglich«, sagte er.
»Es ist unsere einzige Chance zu überleben«, beharrte Morfessa und ließ Rorcs Arm los. »Du musst es tun.«
Rorc blieb stumm. Er dachte an den Tag, an dem man ihn allein in die Wüste hinausgeschickt hatte, an die Jahre, die er herumgezogen war, von der Sandwüste in die Eislande, bis ihn seine Wege in diese Stadt geführt hatten. Und er dachte an Tuon und ihr bleiches, furchtsames Gesicht, als er sie am Hafen zurückgelassen hatte. Dann wanderten seine Gedanken zu jenen, die er verloren, und jenen, die er verlassen hatte.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte er.
Nachdem die alte Frau an den Zügeln des Muthus gezogen und das Gefährt im Stadtinnern an der Seite einer belebten Straße zum Halten gebracht hatte, kletterten Mailun und Irissa hinab. Der Regen war zu einem unablässigen Nieseln geworden, und da es auf dem Karren kein Verdeck gegeben hatte, waren die beiden Frauen völlig durchnässt. Im roten Schlamm, in den das Wasser den Straßenbelag verwandelt hatte, wäre Irissa beinahe
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