Der Herr Der Drachen: Roman
wenn du fort bist, mein Sohn. Ich will nicht dazu verdammt sein, mein Kind nie wiederzusehen.« Ihre Stimme war zum Flüstern geworden, und sie blickte von ihm weg über die Wüste. »Ich habe das schon einmal erlebt. Ich könnte es kein zweites Mal ertragen.«
Unsicher, ob er sie richtig verstanden hatte, runzelte Tallis die Stirn und fragte: »Was meinst du?«
Ihre dunklen, blauen Augen betrachteten ihn prüfend, und zum ersten Mal fielen ihm die feinen Linien darum und die ersten Spuren von Grau in ihrem Haar auf.
»Sohn …« Sie zögerte, und das Unbehagen in Tallis’ Innerem war wie eine kalte Faust. Ein Flüstern, das ihn an jenen Tag in der Wüste erinnerte, streifte seine Haut.
»Du bist nicht Haldanes Sohn, Tallis«, sagte sie leise. »Ich war bereits schwanger, als ich ihn traf.«
Irgendetwas in ihm zerbrach, und er starrte sie an. Starrte sie einfach nur an.
»Sohn?« Sie wartete darauf, dass er etwas sagte. Aber er konnte nicht sprechen.
Stattdessen wandte er sich von ihr ab. Er bebte innerlich, aber viel schlimmer war die Tatsache, dass er nicht überrascht war. Er wusste, dass das eigentlich der Fall sein sollte, verspürte aber nichts dergleichen. Tief in ihm flüsterte eine Stimme: Ja … das ergibt einen Sinn. Es fühlt sich wahr an .
»Tallis?« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, doch er schüttelte sie ab.
Zorn loderte in ihm auf wie Flammen, heiß und schwer in seinen Knochen. Seine Hände ballten sich im Sand zu Fäusten, und er hielt den Blick unverwandt auf einen Vogel geheftet, der aus einem Dornenbusch in den Himmel aufstieg.
»Tallis, es tut mir leid, aber ich wollte, dass du es jetzt weißt, für den Fall …« Sie zögerte. »Und das ist noch nicht alles. Da gibt es noch etwas, das ich dir nie erzählt habe. Etwas …« Sie holte tief Luft. »Du bist nicht mein einziges Kind. Ich habe in dieser Nacht Zwillinge zur Welt gebracht. Ihr wart zu zweit, aber sie war so klein, so klein.« Ihr versagte die Stimme, und Tallis drehte sich wieder zu ihr hin und starrte sie an. Sein Herz fühlte sich plötzlich sehr groß in seiner Brust an, und es hämmerte.
»Was sagst du da?«
»Du hast eine Schwester«, flüsterte sie. »Aber sie war krank, und so haben sie sie mir weggenommen.«
Kälte höhlte ihn aus. Ein krank geborenes Kind bedeutete, dass es bereits von Kaa berührt worden und nur ihm vorbehalten war. Es war gegen das Gesetz, ein solches Kind zu behalten.
»Karnit hat sie in dieser Nacht hinaus in den Sand gebracht.« Mailun wich Tallis’ Blick aus. »Er hat sie dort zurückgelassen, und als er heimkehrte, sagte er, Kaa habe sie bereits zu sich geholt. Aber ich wusste es besser. Dieser Clan … Manchmal war es nur meine Liebe zu Haldane, die mich hier hielt.«
»Lebt meine Schwester noch?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe in dieser Nacht gegen das Gesetz des Clans verstoßen. Derjenige, der sie gerettet hat, hat viel für mich aufs Spiel gesetzt. Ich weiß, dass deine Schwester aus dem Sand gerettet wurde, aber ich weiß nicht, wohin man sie gebracht hat. Vielleicht haben die Führer sich an mir gerächt und sie trotzdem zu sich genommen. Oder vielleicht ist dies ihre Rache.« Ihre Stimme war ausdruckslos, während sie auf Haldanes Asche starrte. »Alles, was ich weiß, ist, dass ich es nicht zulassen konnte. Ich konnte sie nicht so leichtfertig aufgeben.«
Tallis betrachtete ihr Profil, das vom Licht der Morgensonne wie scharf geschnitten wirkte, und er erkannte, dass alles, was er über sich und diesen Ort der Welt wusste, oder was er zu wissen geglaubt hatte, in sich zusammengefallen war.
»War er sich im Klaren? War sich mein Vater …« Er berichtigte sich selbst. »War sich Haldane darüber im Klaren?«
»Dass ich dich erwartete? Ja. Aber ich habe ihm nie gesagt, was ich für deine Schwester getan habe. Er hätte es nicht ertragen. Er war den Gesetzen des Clans zu stark verpflichtet.« Sie sah Tallis geradewegs in die Augen. »Aber er war glücklich, dich als seinen eigenen Sohn anzunehmen und dich wie sein eigen Fleisch und Blut zu lieben.«
»Das ist vorbei, Mutter«, sagte Tallis heiser. »Er ist tot.«
Mailun antwortete nicht, und das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich. Endlich ergriff Tallis wieder das Wort.
»Wer ist mein leiblicher Vater? Wie heißt er?«
Ihre Stimme war angespannt. »Sein Name ist unwichtig.«
»Lebt er noch?«
»Nein.« Ihre Antwort kam rasch. Zu rasch. »Er ist gestorben, als ich gerade schwanger geworden war. Ich ging davon,
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